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Menschenmietmarkt in Japan : Das Geschäft mit der Lüge

Blütenträume: Mahiro und ihr Ersatzvater Ishii Yuichi Bild: ddp Images

Die japanische Firma „Family Romance“ vermietet Familienmitglieder und Freunde gegen die Einsamkeit. In Werner Herzogs Film darüber fragt man sich ständig, wo die Realität endet und die Fiktion beginnt.

          3 Min.

          Ein Mann und ein Mädchen fahren gemeinsam Tretboot, während die Kirschblüten rund um den See in voller Pracht strahlen. Die beiden wirken einander zugewandt und fremd zugleich, schüchtern tasten sie sich vor, als fürchteten sie, der leiseste Missklang könnte ihre Beziehung erschüttern. Ishii Yuichi und Mahiro sehen aus wie Vater und Tochter, die das schöne Wetter nutzen und einen Wochenendausflug unternehmen. Aber Ishii Yuichi spielt in Werner Herzogs Film „Family Romance, LLC“ gleich ein doppeltes Spiel: sich selbst und Mahiros Vater, engagiert von Mahiros Mutter, weil der leibliche Vater der Zwölfjährigen verschwand, als sie noch ein Baby war. Diese Familienlüge mutet erst einmal so grotesk an, dass man nie auf den Gedanken käme, mit der Vermietung von Ersatzvätern, Ersatzmüttern, Ersatzfreunden, Ersatzfamilien, ja gar Ersatzleichen ließe sich tatsächlich Geld verdienen. Aber das kann man. In Japan.

          Melanie Mühl
          Redakteurin im Feuilleton.

          Die Firma „Family Romance“ existiert wirklich, Ishii Yuichi, ein eleganter Mann Ende dreißig, hat sie 2009 in Tokio gegründet. Geschmeidig fügt sich das Unternehmen mit inzwischen mehreren tausend Mitarbeitern in die japanische Dienstleistungsgesellschaft ein, die unermüdlich daran arbeitet, keine Kundenwünsche offenzulassen. Eine Illusionsmaschine, die selbst vor dem Intimsten nicht Halt macht.

          Als Werner Herzog zum ersten Mal von „Family Romance“ und Japans Menschenmietmarkt hörte, elektrisierte ihn das Thema sofort. Der Regisseur flog nach Tokio, traf Ishii Yuichi, engagierte ihn als Protagonisten, drehte ohne Genehmigung mit einer Handkamera und nahm sich selbst als Erzähler komplett zurück. Fans des kommentierenden Herzog-Sounds müssen also dieses Mal auf ihn verzichten, was der Qualität des Films nicht schadet. Die Schlüsselszenen sind gescriptet, ansonsten ließ Herzog seinen Darstellern Dialogfreiheit, weshalb „Family Romance“ oft dokumentarisch, ja seltsam gekünstelt wirkt. Doch genau darin besteht der Clou: Als Zuschauer fragt man sich ständig, ob man es gerade mit Fiktion oder doch mit der Realität zu tun hat.

          Sehnsucht nach Glück

          Einer der absurdesten Aufträge im Film stammt von einer Frau. Sie hatte im Lotto viel Geld gewonnen und sich so irrsinnig über den Besuch des Fremden gefreut, der ihr die Botschaft überbracht hat, dass sie dieses Glücksgefühl noch einmal erleben wollte. Also kaufte sie Tausende Lose, unter denen sich jedoch kein Gewinn verbarg, weshalb sie Ishii Yuichi als Glücksboten engagierte. Ein anderes Mal spielt Ishii Yuichi den falschen Vater einer Braut, die fürchtet, ihr Gesichts zu verlieren, weil ihr echter Vater betrunken auf der Couch liegt, anstatt sie zum Altar zu führen.

          Im Mittelpunkt aber steht die Geschichte von Ishii Yuichi und Mahiro. Es dauert eine ganze Weile, bis die zwei einander näherkommen, bis Mahiro ihren falschen Vater zum ersten Mal umarmt und von einem Jungen aus der Schule erzählt, der sie keines Blickes würdige. Auch er, sagt da Ishii Yuichi, habe die Gefühle ihrer Mutter anfangs nicht erkannt, was ihm so leicht über die Lippen geht, als wäre es wahr. Mahiro solle nachsichtig sein mit den Jungs, und überhaupt sei sie selbst ja noch so jung.

          Der echte Ishii Yuichi kennt die Vaterrolle ebenfalls bestens. Er hat sie jahrelang geschauspielert, inklusive Schulfeste, Abschlussball, Geburtstage und Tränentrocknen. Je monströser die Lüge, desto schwieriger ist es, sie wieder aus der Welt zu schaffen. Wie erklärt man einer erwachsenen Frau, dass der geliebte Vater ein engagierter Schauspieler ist? Wie meistert Ishii Yuichi die moralische Herausforderung, so selbstverständlich in verschiedene Rollen zu schlüpfen wie in Kleidungsstücke?

          Ob es nicht besser wäre, er würde sterben, fragt Ishii Yuichi Mahiros Mutter gegen Ende des Films. Die Tochter spricht von Liebe, fordert mehr Zeit vom Vater. Man darf vermuten, dass auch den echten Ishii Yuichi nicht selten Zweifel quälen, denn je leidenschaftlicher er seine Rolle spielt, desto größer ist die emotionale Resonanz. Er buhlt dort um Zuneigung, wo Zuneigung verdammt schnell gefährlich werden kann.

          „Family Romance“ erzählt mehr als eine skurrile Geschichte aus der Ferne. Was ist Lüge, was ist Wahrheit – diese Frage schwebt ja ständig über uns und den zahllosen Selbstinszenierungs- und Vermarktungsbühnen des Internets. Selbst der Superperfomer ist nicht vor Einsamkeit gefeit, die so existentiell sein kann, dass Schauspieler oder gar Roboter besser sind als die fürchterliche Leere. Noch hofft man, das Ishii Yuichis Geschäftsmodell hierzulande scheitern würde, aber wer weiß.

          Family Romance, LLC läuft auf der Streaming-Plattform Mubi.

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