Preise des Filmfests Venedig : Kämpfende Kinokunst weltweit
- -Aktualisiert am
Laura Poitras mit dem Goldenen Löwen für „All the Beauty and the Bloodshed“ Bild: AFP
Der streitbare Dokumentarfilm „All the Beauty and the Bloodshed“ ist der Sieger des Filmfests von Venedig 2022 – und auch sonst belohnte die Jury vor allem Mut.
Sehr selten gewinnen Dokumentarfilme die höchste Auszeichnung auf einem der wichtigen Filmfestivals – es müssen schon herausragende Werke sein wie der Film „All the Beauty and the Bloodshed“ von Laura Poitras, den an diesem Wochenende die Jury des Filmfests von Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet hat. Poitras erzählt von den Ursachen der Opioidkrise in Amerika und vom Kampf der Künstlerin Nan Goldin gegen die Familie Sackler, die für die aggressive Vermarktung des abhängig machenden Medikaments Oxycontin verantwortlich ist, mit der die Krise begann. „Ich fand es sehr inspirierend, dass eine Künstlerin solchen Ranges ihre Position in der Kunstwelt nutzt, um die Öffentlichkeit auf das Verhalten der Sackler-Familie aufmerksam zu machen“, sagte Laura Poitras im Gespräch mit dieser Zeitung während des Festivals.
„All the Beauty and the Bloodshed“ ist ein vielschichtiger Film, der die Grenzen zwischen Dokumentarischem, Porträt, Essay und Bildender Kunst verschwimmen lässt. In intimen Gesprächen mit Nan Goldin entsteht ein Blick auf die Avantgarde im New York der Achtzigerjahre. Zwischen Archivbildern und Zeitdokumenten bettet Poitras auch Videoinstallationen Goldins ein, die sich mit sexueller Gewalt und Selbstbestimmung, mit Subkulturen und der Aidskrise befassen und schon bei ihrer Erstaufführung in unabhängigen New Yorker Galerien für Aufruhr sorgten. In sechs Kapiteln mit poetischen Titeln wie „Merciless Logic“ (Gnadenlose Logik) oder „Coin & Realm“ (Münze und Reich) wechselt der Blick auf das Künstlerleben, das immer auch politisch Stellung bezog, mit dem aktuellen Kampf dieser Frau ab.
Goldin, die selbst jahrelang gegen Medikamentenabhängigkeit kämpfte, nutzt ihren Ruf, um den Protest dorthin mitzunehmen, wo ihre eigenen Werke hängen. Im Metropolitan Museum oder dem Guggenheim lässt sie also Dutzende leere Medikamentendosen aufstellen und legt sich mit anderen Teilnehmern der Aktion auf den Boden. Beabsichtigt ist zum einen, die Öffentlichkeit auf die Sacklers aufmerksam zu machen, die von der Abhängigkeit Hunderttausender in Amerika über Jahrzehnte profitiert haben, und zum anderen, den Namen dieser Familie aus den Institutionen, in denen er in goldenen Buchstaben über Museumsflügeln prangt, zu vertreiben. Dafür mischt Goldin Happening und Protest, Kunst und Politik.
Bewegendes Brauenspiel
Auch Poitras’ Film oszilliert zwischen diesen Polen. Ihr gelingt es dabei, einen Bogen von den Achtzigerjahren bis heute zu spannen. Solche weit ausgreifenden Wagnisse gingen in diesem Jahr viele Filmschaffende im sehr starken Wettbewerb von Venedig ein, etwa der iranische Regisseur Jafar Panahi, dessen Film „No Bears“ den Spezialpreis der Jury gewann. Er spielt mit erzählerischen Ebenen, wechselt zwischen nüchternen Kameraeinstellungen und subjektiv aufgeladener Autofiktion: Der Filmemacher Jafar Panahi reist hier ins iranische Grenzgebiet, um ein Paar bei der illegalen Ausreise dokumentarisch zu begleiten. In einem Bergdorf wird er in alte Kämpfe zwischen Familien verwickelt und mit Schariatraditionen konfrontiert. Zur Filmpremiere in Venedig versammelten sich rund hundert Kreative, darunter auch Jury-Präsidentin Julianne Moore und Festivaldirektor Alberto Barbera, zu einem Flashmob, um gegen die jüngste Inhaftierung des Regisseurs in Iran zu protestieren.
Als würde er die Frage antizipieren, warum er, der immer wieder mit Repressionen und Hausarrest schikaniert wurde, sein Land nicht längst verlassen hat, gibt er in „No Bears“ mit Bildern Antwort: Der fiktive Panahi steht bei der Drehortsuche auf einem Hügelkamm und fragt den Begleiter, wo denn die Grenze verlaufe. „Du stehst direkt drauf“, sagt der Begleiter. Panahi schreckt zusammen, als wäre er auf eine giftige Schlange getreten, und springt zurück, auf den Boden der Heimat. Fortgehen ist keine Option. Ein ähnlich komplexes heimatkundliches Thema behandelte der irische Regisseur Martin McDonagh in seiner schwarzen Komödie „The Banshees of Inisherin“, in der ein Geiger auf einer irischen Insel gegen Muff und intellektuelle Dumpfheit rebelliert. Colin Farrell, der als Bauer auf dieser Insel selten die richtigen Worte findet, sein Leiden über den Verlust einer Freundschaft jedoch mit bewegendem Brauenspiel ausdrückt, gewann den „Coppa Volpi“ als bester Darsteller.
Als beste Darstellerin wurde Cate Blanchett in „Tár“ ausgezeichnet. Wohl nie zuvor war Blanchett so gut wie in der Rolle dieser lesbischen Star-Dirigentin, die sich zwischen Machthunger und Manie bewegt. Eine kaum sympathische Rolle, deren Motivation die Darstellerin aber nachvollziehbar macht – dank ihrem Mut zum Wagnis, der Qualität, die der Jury in Venedig dieses Jahr offenbar die wichtigste war.
Die Prämierten des Festivals
Goldener Löwe für den besten Film:
„All the Beauty and the Bloodshed“ (Regie: Laura Poitras)
Silberner Löwe (Großer Preis der Jury):
„Saint Omer“ (Regie: Alice Diop)
Silberner Löwe für die beste Regie:
Luca Guadagnino („Bones and All“)
Coppa Volpi für den besten Darsteller:
Colin Farrell („The Banshees of Inisherin“)
Coppa Volpi für die beste Darstellerin:
Cate Blanchett („Tár“)
Bestes Drehbuch:
Martin McDonagh („The Banshees of Inisherin“)
Spezialpreis der Jury:
„Khers Nist (No Bears)“ (Regie: Jafar Panahi )
Marcello-Mastroianni-Preis:
Taylor Russell („Bones And All“)