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Deutscher Filmpreis : Übung im Trockenschwimmen

Die Besetzung von „Systemsprenger“ vor Corona-Zeiten im Dezember 2019 bei der Verleihung des Europäischen Filmpreises: Lisa Hagmeister, Regisseurin Nora Fingscheidt, Helena Zengel und Albrecht Schuch Bild: dpa

Wegen der Corona-Krise fand die Verleihung des Deutschen Filmpreises ohne Publikum im Studio statt. Die beiden Favoriten gewannen mehrere Preise, die meisten anderen Nominierten gingen leer aus. Einer fand für den Abend die richtigen Worte.

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          Die Favoriten haben gewonnen. Das ist nicht neu beim Deutschen Filmpreis, aber es war dann doch überraschend, wie Nora Fingscheidts „Systemsprenger“ und Burhan Qurbanis „Berlin Alexanderplatz“ diesmal die Sache fast allein unter sich ausgemacht haben: acht Preise für „Systemsprenger“ (bei zehn Nominierungen), fünf für „Berlin Alexanderplatz“ (der elfmal nominiert war). Nennen wir deshalb also gleich am Anfang die Verlierer des Abends: „Undine“ von Christian Petzold; „Deutschstunde“ von Christian Schwochow; „Narziss und Goldmund“ von Stefan Ruzowitzky; und Philip Stölzls „Ich war noch niemals in New York“. Ein Mythenfilm, eine Literaturverfilmung, ein historischer Kostümfilm, ein Filmmusical – alles in allem eher ein repräsentativer Querschnitt des deutschen Kinos am Ende der Zehnerjahre als die beiden Ausreißer an der Spitze. Keiner von den vier Filmen bekam einen Preis.

          Andreas Kilb
          Feuilletonkorrespondent in Berlin.

          Ungewöhnlich an dieser siebzigsten Filmpreis-Verleihung – 1951, beim allerersten Mal, gewann Josef von Bákys Kästner-Verfilmung „Das doppelte Lottchen“ – war nicht nur die durch die Corona-Krise erzwungene sterile Studio-Show mit Zuschaltung der Nominierten und Preisträger auf Monitoren. Ungewöhnlich war auch, dass mit „Berlin Alexanderplatz“ ein Film als zweiter Sieger ins Ziel ging, der noch keinen regulären Kinostart gehabt hat. Im Februar war Qurbanis Migrantendrama nach dem Roman von Döblin auf der Berlinale gelaufen, im März, dann im Mai sollte er in die Kinos kommen, doch die Pandemie hat beide Termine gekippt.

          Das Kino ist, wie fast alle Sparten der Kultur, auf Null gesetzt, und es war Edgar Reitz, der Träger des Ehrenpreises für sein Lebenswerk, der als einziger an diesem Abend die richtigen Worte für die Situation gefunden hat. Die Leinwand, sagte Reitz, sei für ihn immer der Ort der Erinnerung gewesen, und deswegen müsse das Kino weiterleben, denn ohne es würden wir die Freiheit verlieren, in Bildern zu denken. Zuvor war ein Ausschnitt aus der „Zweiten Heimat“ von 1992 zu sehen gewesen: „Raus aus den Studios und rein ins Leben!“ rief da eine der Hauptfiguren. Das sollte sich der Deutsche Film auch heute noch gesagt sein lassen.

          Kontaktlose Schmalspur-Gala

          Zu diesem Zeitpunkt lief die Live-Ausstrahlung in der ARD schon zwei Stunden, aber es fühlte sich an wie drei. Diese kontaktlose Schmalspur-Gala, tapfer, aber nicht immer glücklich moderiert von dem Schauspieler Edin Hasanović, war eine Trockenschwimmübung, wie man sie hoffentlich so bald nicht wieder erleben muss. Das schon bei normalen Filmpreis-Galas oft nervenzehrende Stakkato der Auf- und Abtritte, Preisverkündigungen und Danksagungen – diesmal kam noch eine Auszeichnung für visuelle Effekte hinzu, die das Spezialistenteam von Dani Levys „Känguru-Chroniken“ gewann – wirkte diesmal noch angestrengter als sonst, und die zwei, drei Gesangsnummern dazwischen sorgten nur vorübergehend für Erholung.

          Weil die Nominierten wie festgeschraubt vor ihren Computerscreens saßen, klammerte sich das Auge des Zuschauers an Nebensachen: die Stadtsilhouette von Vancouver, von wo aus Nora Fingscheidt, die Regisseurin von „Systemsprenger“ und große Gewinnerin des Abends, zugeschaltet war; die Fototapete, vor der Gabriela Maria Schmeide ihren Preis als beste Nebendarstellerin empfing; der kleine Sohn des Kameramanns Yoshi Heimrath („Berlin Alexanderplatz“), der ungerührt bei seinem Vater auf dem Schoß saß, während dieser sich für die Lola bedankte. Irgendwann, etwa eine Stunde nach Mitternacht, war das Ganze dann endlich ausgestanden. Kurz vorher hatten noch Ulrich Matthes, der Präsident der Deutschen Filmakademie, die die Auszeichnungen vergibt, und Kulturstaatsministerin Monika Grütters, von der das ausgeschüttete Preisgeld von drei Millionen Euro stammt, die Überlebenskräfte des Kinos beschworen. Ja, es ist wahr: Nach diesem Fernsehabend sehnt man sich nach der großen Leinwand mehr denn je.

          Der Deutsche Filmpreis 2020:

          Goldene Lola: „Systemsprenger“ von Nora Fingscheidt

          Silberne Lola: „Berlin Alexanderplatz“ von Burhan Qurbani

          Bronzene Lola: „Es gilt das gesprochene Wort“ von Ilker Čatak

          Beste Regie: Nora Fingscheidt

          Bestes Drehbuch: Nora Fingscheidt

          Beste Hauptdarstellerin: Helena Zengel („Systemsprenger“)

          Bester Hauptdarsteller: Albrecht Schuch („Systemsprenger“)

          Beste Nebendarstellerin: Gabriela Maria Schmeide („Systemsprenger“)

          Bester Nebendarsteller: Albrecht Schuch („Berlin Alexanderplatz“)

          Bester Dokumentarfilm: „Born in Evin“ von Maryam Zaree

          Bester Kinderfilm: „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ von Caroline Link

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