Jean-Luc Godard zum 90. : Der Zauberlehrling des Kinos
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Dem Geheimnis auf der Spur: Jerzy Radziwilowicz und Isabelle Huppert in Jean-Luc Godards Film „Passion“ aus dem Jahr 1982 Bild: Picture-Alliance
Ein Filmkritiker wird Regisseur, und neben dem, was er nun hervorbringt, sieht das ganze bisherige Kino plötzlich alt aus: Jean-Luc Godard zum neunzigsten Geburtstag.
Man stelle sich vor, Robespierre hätte die Französische Revolution überlebt. Als ehrwürdiger Greis, womöglich im Schweizer Exil, würde er die Anführer des Pariser Juli-Aufstands empfangen, den Veteranen Napoleons Mut zusprechen und Verbindungen nach Südamerika und Russland knüpfen. Zeitungskorrespondenten würden ihn mit Interview-Anfragen überschütten. Der junge Marx säße zu seinen Füßen, der alte Hegel hätte ihn vor seinem Tod noch besucht. So ähnlich geht es Jean-Luc Godard, dem Revolutionär des Kinos, sechzig Jahre nach dem Beginn der Nouvelle Vague. Als er noch zu Filmfestivals reiste, also bis kurz nach der Jahrtausendwende, war jeder seiner Auftritte eine Audienz, bei der er die Huldigungen seiner Verehrer empfing, Regiekollegen lobte oder verdammte und Bonmots zur Weltlage von sich gab. Heute, da er sein Domizil in der Kleinstadt Rolle am Genfer See nur selten verlässt, ist selbst die Aufnahme einer Google-Streetview-Kamera, die ihn auf der Straße mit seiner Lebensgefährtin Anna-Marie Miéville zeigt, bedeutend genug, um im Internet verbreitet zu werden. Die vorletzte Stufe seiner Heiligsprechung ist die vor einem Jahr eröffnete Installation in der Mailänder Fondazione Prada, in der Godards filmische Werkstatt mit sämtlichen Perserteppichen, Postern, Reisesouvenirs und elektronischer Hardware aus vier Jahrzehnten originalgetreu nachgebaut wurde. Die letzte Stufe wäre ein Denkmal auf den Champs- Élysées, an der Stelle, an der Jean-Paul Belmondo in „Außer Atem“ Jean Seberg begegnet. Aber bis dahin ist noch Zeit.
Was Robespierre nicht vergönnt war, hat Godard erlebt: den Triumph einer Idee, die 1960 mit „Außer Atem“ das Licht der Welt erblickte und seither aus der globalen Bilderproduktion nicht mehr wegzudenken ist. Dabei musste er für seine ästhetische Revolution niemanden auf die Guillotine schicken. Es genügte, dass er so gut wie alle Filme, die bis dahin gedreht worden waren, mit einem Mal alt aussehen ließ. Bis zu diesem Zeitpunkt war Hollywood im Kino das Maß aller Dinge, und im europäischen Kino galt das Primat der Stoffe, der Drehbücher, die von Profis geschrieben und von erfahrenen Regisseuren mit bekannten Stars umgesetzt wurden. Godard aber bewies, dass man einen Film auch ohne Skript und gegen alle Regeln der Branche inszenieren und schneiden konnte – und dass die Bilder, die auf diese Weise entstanden, viel realer und intensiver waren als die Produkte der Routiniers.
Die Fortsetzung der Filmkritik mit anderen Mitteln
Zuvor war er Filmkritiker gewesen, und später hat er oft erklärt, er habe auch in dieser Zeit Filme gedreht, nur eben im Kopf. Man könnte es aber auch genau umgekehrt sehen: Dann wäre Godards Arbeit als Regisseur die Fortsetzung der Filmkritik mit anderen Mitteln. Die anderen Regisseure der Nouvelle Vague, Truffaut, Chabrol, Rivette, Rohmer, gingen vom Schreibtisch hinter die Kamera, um zu praktizieren, worüber sie geschrieben hatten. Godard wollte mit der Kamera weiterschreiben. Man muss nur an die zahllosen Inserts in seinen Filmen denken, um zu erkennen, wie sehr das Kino bei Godard zum visuellen Text geworden ist, in dem Bilder wie Wörter und Kamerabewegungen wie Satzzeichen funktionieren. Trotzdem fällt es schwer, die Methode Godard, dieses Feuerwerk von unerwarteten Schnitten, Szenenwechseln, Einblendungen, Off-Kommentaren, Überlappungen, Asynchronien und Zitaten auf einen Begriff zu bringen.
Godard selbst hat in seinem zweiten Spielfilm „Der kleine Soldat“ die bis heute tausendfach wiederholte Parole ausgegeben, das Kino sei die Wahrheit, vierundzwanzig Mal in der Sekunde. Dieser Absolutheitsanspruch beflügelt sein gesamtes Lebenswerk, und zugleich ist er das, was Nietzsche als das „schwerste Gewicht“ bezeichnet hat. Denn zur Wahrheitssuche gehört auch die Selbsterforschung. Mit Godard tritt das Kino in seine reflexive Phase ein, und das bedeutet auch, dass es sich seiner Vergänglichkeit bewusst wird. „Die Verachtung“, drei Jahre nach „Außer Atem“ entstanden, beginnt mit dem Bild einer Kamera, die auf Schienen auf den Zuschauer zufährt. Später streiten sich der Regisseur Fritz Lang und der Schauspieler Jack Palance, der einen amerikanischen Produzenten spielt, in einem Vorführraum über das Verhältnis von Wörtern und Bildern. Es ist der vielleicht beste Film, der je über das Kino als Kunst und Ware gedreht worden ist, und doch wirkt er von heute aus gesehen so vorzeitlich wie Picassos „Guernica“. Die Helden und Schurken von damals sind Geschichte, und niemand vermisst sie schmerzlicher als Godard, ihr Zauberlehrling und Historiograph.
Der Kampf gegen die Produzenten, die Klischees, die geläufigen Formen und Erzählungen, der Godards Filme beseelt, kann leicht vergessen lassen, wie viel diese Filme über ihn selbst erzählen. Viele unvergessliche Szenen aus „Vivre sa vie“, „Eine Frau ist eine Frau“ und „Die Außenseiterbande“ sind Liebeserklärungen an seine erste Ehefrau Anna Karina. In „Die Verachtung“ setzte er Brigitte Bardot eine schwarze Perücke auf, um sie Karina ähnlicher zu machen, und in „Pierrot le Fou“ gelang ihm das Kunststück, mit der Kamera einen öffentlichen Abschiedsbrief an seine Frau und seinen Lieblingsdarsteller Belmondo auf die Leinwand zu bringen. Auch seine Beziehung zu Anne-Marie Miéville, mit der er seit bald einem halben Jahrhundert zusammenlebt, hat sich in seine Filme eingeschrieben: Sie hat ihnen die romantischen Flausen und cinephilen Schnörkel der frühen Jahre ausgetrieben. Das kann man bedauern, aber es gehört zur Logik einer Biographie, die keinen Unterschied zwischen Kunst und Leben macht.
Filmtrailer : „Die Verachtung“
In den achtziger Jahren, der zweiten Hochphase seines Schaffens, hat Godard viele Motive aus seinem Frühwerk in veränderter Form wiederholt, als wollte er sie auf ihre Haltbarkeit testen: das Frauenleben aus „Vivre sa vie“ in „Rette sich wer kann (das Leben)“, die Regisseursgeschichte aus „Die Verachtung“ in „Passion“, das Abenteuer des Agenten Lemmy Caution aus „Alphaville“ in „Deutschland Neu(n) Null“, seiner großen und düsteren Hommage an das Land von Goethe und Bach. In den Siebziger Jahren lag jene Phase, in der sein Kino sich verwandelte. Godard, der stets gepredigt hatte, statt politischer Filme müsse man Filme politisch machen, schuf Bilder von Arbeiterstreiks in Italien und palästinensischen Guerrillakämpfern, entdeckte die Videotechnik als Ausdrucksmittel und träumte davon, das Staatsfernsehen von Moçambique aufzubauen. Schließlich kehrte er zum Spielfilm zurück, aber der Bruch mit dem Mainstream, den er nach dem Mai 1968 vollzogen hatte, war nicht mehr rückgängig zu machen. In den Essayfilmen, die er seit nunmehr dreißig Jahren dreht – der erste hieß nicht zufällig „Nouvelle Vague“ –, kommt die Sprache des Kinos nur noch als Zitat und Pose vor. Die Erzählung ist zum Monolog, der Revolutionär zum Einsiedler geworden.
Aber in dieser Einsamkeit ist zugleich jenes Alterswerk entstanden, das wie ein außerirdischer Monolith in der digitalen Bilderwelt der Gegenwart dasteht: die „Geschichte(n) des Kinos“, die Godard in zehnjähriger Arbeit in seiner Werkstatt in Rolle montiert hat. Gäbe es von ihm nur dieses viereinhalbstündige Puzzle aus Filmausschnitten, Standbildern, Schrifttafeln und Kommentaren, wäre Godard ein Platz in der Filmgeschichte sicher. Niemand hat über das Kino je mit größerem Pathos und tieferer Inbrunst gesprochen – einer Inbrunst, die an Verzweiflung grenzt: „Für mich / ist die große Geschichte / die Geschichte des Kinos / sie ist größer als die anderen / weil sie projiziert wird“. Was er wirklich wolle, fragt Jean Seberg in „Außer Atem“ den von Godard bewunderten Regisseur Jean-Pierre Melville. „Unsterblich werden – und dann sterben“, antwortet der. Unsterblich ist Jean-Luc Godard schon lange. Heute wird er neunzig Jahre alt.