Regisseur Michel Deville 90 : Meister des Kinospiels
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Sein Kino ist mit Kunst, Literatur und Malerei gesättigt: Michel Deville Bild: Etienne George/Imago
Seine Filme hätten gut zu den jungen Wilden der Nouvelle Vague gepasst. Aber Michel Deville ging lieber einen eigenen Weg zwischen Kommerz- und Autorenkino. Heute wird der französische Filmregisseur neunzig Jahre alt.
Jeder weiß, dass das Kino eine kollektive Kunst ist. Trotzdem hat sich das Reden über Film nie ganz vom Geniebegriff des neunzehnten Jahrhunderts befreit, vom Glauben an den großen Einzelnen, der die Maschinerie für seine Vision in Bewegung setzt. Das, was der Filmhistoriker Thomas Schatz „das Genie des Systems“ genannt hat, jene künstlerische Kraft, die aus der Arbeit von vielen resultiert, tritt dagegen in den Hintergrund. Dabei hat es das System, das Schatz meinte, nicht nur in Hollywood, sondern auch in vielen europäischen Ländern gegeben, in Deutschland etwa bis in die sechziger, in Italien bis in die achtziger Jahre hinein. In Frankreich besteht es bis heute.
Aber auch ein System der Bilderproduktion kann man nur anhand einzelner Personen beschreiben. Reden wir also über Michel Deville, einen Regisseur, dessen ein halbes Jahrhundert umspannendes filmisches Werk bei uns immer nur sporadisch wahrgenommen wurde, am meisten vielleicht in den achtziger Jahren, als er mit „Gefahr im Verzug“ im Wettbewerb der Berlinale landen und mit „Die Vorleserin“ einen internationalen Arthouse-Erfolg verbuchen konnte. Doch eine wirkliche Anhängerschaft wie die Originalgenies Truffaut, Rohmer, Rivette und Chabrol hat Deville hierzulande nie gefunden, und das hat mit dem quecksilbrigen, unsteten, leicht flüchtigen Charakter seines Kinos zu tun.
Ein schauspielerischer Glanz, wie nur er ihn sah
Denn Deville, der 1931 als Sohn eines Töpfereibesitzers in einem Vorort von Paris geboren wurde, hat das Filmemachen von Anfang an ebenso sehr als Metier wie als Kunst betrieben, und wenn es hart auf hart kam, gab er dem Metier den Vorzug. „Ce soir ou jamais“, der Film, mit dem er nach zehn Jahren als Regieassistent 1961 debütierte, hätte gut ins Programm der Nouvelle Vague gepasst, wenn er nicht ganz so clever und selbstgewiss gewesen wäre.
Aber Deville wollte gar kein Nouvelle-Vague-Regisseur sein, es genügte ihm, in Anna Karina, Marina Vlady oder Mylène Demongeot, seinen Stars, einen schauspielerischen Glanz zu erwecken, den keiner der Kollegen aus ihnen herausholen konnte, und als ihm 1968, im Jahr der Revolte, mit „Benjamin – Aus dem Tagebuch einer männlichen Jungfrau“ sein erster Kassenerfolg gelang, ließ er sich auch davon nicht beirren, sondern steuerte weiter geradewegs zwischen Autoren- und Kommerzkino hindurch.
Für „Der Bär und die Puppe“, eine Persiflage des Geschlechterkriegs, holte er sich Brigitte Bardot, und für „Das wilde Schaf“, 1974, bekam er sogar Romy Schneider. Wenn man Devilles filmische Methode begreifen will, ist dieser Film der ideale Einstieg, denn er lässt Romy, die als unzufriedene Ehefrau eines Universitätsprofessors zur Geliebten des Aufsteigers Jean-Louis Trintignant wird, abwechselnd wie eine Doppelgängerin von Emma Bovary und eine selbstbewusste Citoyenne von heute aussehen. Selbst als sie von ihrem düpierten Gatten erschossen wird, traut man ihr zu, sich das Blut abzuwischen und wieder auf die Beine zu kommen. Erst der Schnitt, mit dem die Szene endet, beseitigt alle Zweifel.
Was er nicht kann, ist das Mittlere und Erwartbare
Schnitte spielen ohnehin eine Hauptrolle bei Deville. In einem Kino, das so mit Bildung, Können, Geschmack, mit Literatur, Musik und Malerei gesättigt ist wie das seine, ist die découpage oft die eigentliche Erzählerin. Sie macht aus einem Thriller ein Ballett des Begehrens („Sweetheart“) oder eine Studie vom Gesehenwerden („Gefahr im Verzug“), aus einer Nebenerwerbskomödie eine Allegorie der Lebensalter („Die Vorleserin“) und aus einer Mordgeschichte von Patricia Highsmith eine Ehegroteske von Beckett.
Wenn Deville etwas nicht kann, dann ist es das Mittlere und Erwartbare, der familiengerechte Liebesfilm, die gediegene Adaption. Er muss das ästhetische Kapital, das in den Stoffen steckt, immer aus eigenen Mitteln erhöhen, damit sich für ihn der Einsatz lohnt. Eben deshalb ist er der französischste aller französischen Filmregisseure, der einzige, für den es im Kino nicht um Moral, Erkenntnis, die Kunst oder den Ruhm geht, sondern allein um das Spiel selbst.
Und wo bleibt bei alledem das System, die Industrie? Im Fall von Deville besteht sie aus zwei verlässlichen Instanzen: seiner Ehefrau und Produzentin Rosalinde – und der Blüte der Schauspielerzunft seines Landes. Beide haben Devilles Filme groß gemacht. Aber am Ende kam alles auf einen hageren Mann mit weißen Haaren und wachen Augen an. Heute wird er neunzig Jahre alt.