Kore-edas „La Verité“ im Kino : Nichts als die Wahrheit
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Sie muss den Spiegel nicht anschauen, es reicht, dass der Spiegel sie anschaut und bewundert: Catherine Deneuve. Bild: Prokino
In „La Verité“ streiten Catherine Deneuve und Juliette Binoche über Lebenslügen in einer Mutter-Tochter-Beziehung. Doch das ist nur die erste Ebene im neuen Film des japanischen Arthouse-Meisters Kore-eda.
Hirokazu Kore-eda ist kein Regisseur, der nur eine Geschichte erzählt. Seine Filme haben immer mindestens eine zweite Schicht, die ein tieferes Problem philosophisch betrachtet. Man kann sich also sicher sein, dass sein neuer Film „La Verité – Leben und lügen lassen“ nur vordergründig von einer zwischenmenschlichen Wahrheitssuche handelt. Es ist der erste Film, den der japanische Arthouse-Regisseur im Ausland gedreht hat. Die französische Filmdiva Catherine Deneuve spielt darin Fabienne, eine alternde französische Filmdiva, die mit einer letzten großen Rolle abtreten will und außerdem gerade ihre Autobiographie publiziert hat. Juliette Binoche tritt als ihre Tochter Lumir auf, eine erfolgreiche Drehbuchautorin, die samt Mann (Ethan Hawke) und Kind aus Amerika angereist ist, um mit der Mutter den Erfolg des Buches zu feiern. Doch schon beim ersten Blättern darin muss sie feststellen, dass die Mutter hier einiges geschönt hat. Und so beginnt zwischen den beiden Frauen ein Ringen um die titelgebende Wahrheit ihrer Familiengeschichte – doch das ist eben nur die erste, die offensichtliche Ebene.
Kore-eda, der aufgrund seiner scharfen Beobachtung gern mit dem japanischen Altmeister Yasujiro Ozu verglichen wird, sich selbst jedoch eher in der Tradition der Arbeiterdramen des britischen Regisseurs Ken Loach sieht, will hier keine konventionelle Mutter-Tochter-Beziehung erzählen. Er nimmt die Hauptfiguren nur als Ausgangspunkt für tiefergreifende Betrachtungen über den Zustand unserer Gesellschaft, so wie er das schon in früheren Filmen tat: Da beobachtete eine zum Leben erwachte Sexpuppe die Einsamkeit der Menschen in der modernen Großstadt und hinterfragte, wie Männer Frauen behandeln („Air Doll“, 2009); da suchte ein Polizist die Wahrheit in einem Mordfall und diskutierte am Ende mit dem Hauptverdächtigen darüber, wem das Recht zum Töten zusteht („The Third Murder“, 2017); da nahmen vier Vagabunden und Kleinkriminelle ein kleines Mädchen bei sich auf und stellen in Frage, wie Familienstrukturen eigentlich funktionieren („Shoplifters“, für den gab es 2018 in Cannes die Goldene Palme).
Auch „La Verité“ kreist ruhig um sein Thema und schaut sich gleichzeitig an, was das Altern mit uns eitlen Menschengeschöpfen macht. Der Figur der Fabienne stellt Kore-eda die Geschichte des Science-Fiction-Films gegenüber, den die Diva parallel zum Besuch der Tochter dreht. Darin entscheidet sich eine Frau gegen das Älterwerden und muss zusehen, wie ihre Familie vor ihr stirbt.
Da Lumir beschlossen hat, ihrer Mutter bei diesem letzten Filmprojekt zu helfen, findet ein Teil der Handlung an diesem Filmset statt. Wenn die Tochter dort also mit ihrer das Altern nicht akzeptierenden Divenmutter deren kapriziöses Verhalten diskutiert, dann geschieht das am Rande von Filmszenen, in denen eine nichtalternde Filmmutter mit ihrer alternden Tochter, die von der Divenmutter gespielt wird, ihre Lebensentscheidungen diskutiert. Dass diese Idee nicht verkopft zergrübelt wird, sondern sich leichthin in die Handlung webt, liegt auch an den großartigen Darstellern. Binoche und Deneuve werfen sich mit Freude die Bälle hin und her. In einer der eindrucksvollsten Szenen des Films nimmt die Diva weinend ihre Tochter in den Arm. Gerade als man ihr, die so hart zu allen anderen und sich selbst war, die Emotion abnimmt, schüttelt sie sie ab und zerstört den Moment durch den Hinweis, für ihre Abschlussszene im Film, bei der ihr die Tränen fehlten, wäre dies die perfekte Emotion gewesen. Fiktion und Realität verdrehen sich hier ineinander wie die Treppen bei M.C. Escher.