Cannes : Es war einmal ein Land
- -Aktualisiert am
Emir Kusturica mit Slavko Stimac (links) und Natasa Solak Bild: AP
Gackernde Hühner, weinende Esel, brummende Bären: Emir Kusturicas Film „Das Leben ist ein Wunder“ ist eine traurige Allegorie über das Land, den Krieg und die Liebe.
Wenn es einen Ort gibt, der noch lauter, bunter und chaotischer ist als das Filmfestival an der Côte d'Azur, dann ist es das Kinoland des Regisseurs Emir Kusturica. In Kusturicas Filmen gibt es keine Ruhepausen, weil sie Ausgeburten einer Phantasie sind, die nie zur Ruhe kommt.

Feuilletonkorrespondent in Berlin.
Der Treibsatz, die historische Lunte, welche diese Phantasie entzündet hat, war die Implosion des jugoslawischen Vielvölkerstaates am Anfang der neunziger Jahre. Seither kreisen Kusturicas Filmstories in immer neuen Anläufen um die Frage, wie diese Katastrophe geschehen, wie eine Welt zusammenbrechen konnte, in der Menschen, Tiere, Dinge, Gedanken und Gefühle an ihrem Platz zu sein schienen, in der das Multikulturelle kein Schimpfwort, sondern alltägliche Wirklichkeit war.
Idyllen und Elegien
Das ist natürlich ein allzu idyllisches Bild Ex-Jugoslawiens, und Kusturica weiß das genau. Deshalb lädt er seine Geschichten von Anfang an mit zahllosen großen und kleinen Konflikten auf, die durch den Bürgerkrieg nur mehr verstärkt werden. Aber Idyllen sind diese Filme doch, und Elegien. Sie kommen als Stimmungskanonen daher, als poetische Ekstasen aus Bewegung und Musik, aber auf ihrem Grund liegen die Angst und die Trauer eines Kindes, das in einen tiefen Brunnen gefallen ist. Das Kind heißt Jugoslawien, aber es heißt auch Emir Kusturica. Und die Bilder, die es träumt, gewinnen den Schrecken der Geschichte immer neue Wunder ab.
"La vie est un miracle" (Das Leben ist ein Wunder), Kusturicas diesjähriger Wettbewerbsbeitrag in Cannes, ist eine Variation seines Films "Underground", mit dem er vor neun Jahren die Goldene Palme gewann. "Underground" spielte in einem Keller, "La vie est un miracle" spielt in einer abgelegenen Bergregion zwischen Bosnien und Kroatien, durch die eine halbfertige Bahnstrecke führt; aber bei Kusturica bedeuten oben und unten wenig, was zählt, ist die freie Bewegung seiner visuellen Imagination, für die es kein räumliches Hindernis zu geben scheint.
Gackernde Hühner, weinende Esel
Luka (Slavko Stimac), der Held, ist mit seiner Frau, einer Opernsängerin, in diese ländliche Hinterwelt gezogen, um als Ingenieur den Streckenbau zu überwachen, und wer Kusturicas Filme kennt, kann sich vorstellen, wie es um ihn herum aussieht. Gackernde Hühner, weinende Esel, brummende Bären, Trompeten und Tuba blasende Dörfler, Saufkumpane, Autos auf Schienen, Frauenstimmen und Draisinen, alles schreit und rennt und feiert wild durcheinander, bis jeder Hauch balkanischer Schläfrigkeit ausgetrieben ist.
In dieses Tohuwabohu hinein pflanzt Kusturica seine traurige Allegorie über das Land, den Krieg und die Liebe. Es beginnt damit, daß Lukas Sohn Milos, ein begabter Fußballer, am gleichen Tag ein Angebot von Partizan Belgrad und seine Einberufung zur Armee erhält. Dann wird der Bürgermeister des Ortes, von seinem intriganten Stellvertreter verraten, bei einer Bärenjagd aus dem Hinterhalt erschossen. Als die Kugel ihn getroffen hat, setzt er ein letztes Mal seine Trompete an und bläst. Aber aus dem Instrument quillt kein Ton, sondern Blut. Es ist eins von vielen großen Bildern dieses Films, und der einzige Vorwurf, den man Kusturica machen kann, ist der, daß er solchen Einstellungen zuwenig Zeit läßt, sich zu entfalten. Andererseits dauert sein Film auch so noch zweieinhalb Stunden, woran man ungefähr ermessen kann, wieviel er zu erzählen hat.