Cannes : Die Kofferkinder
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Filmfamilie: die Crew von „Nobody Knows” Bild: dpa/dpaweb
Nach der Party beginnt in Cannes der Alltag. Kore-Eda Hirokazus „Nobody knows“ traut sich nicht, seine eigenen Stärken zu nutzen, Paolo Sorrentinos „Le Conseguenze dell'Amore“ schleppt sich dahin.
Nach der Party beginnt der Alltag. Der Alltag von Cannes besteht aus Filmen, die für das Festival ausgewählt wurden, weil sie den Programmverantwortlichen gefallen oder ins Konzept gepaßt haben, was noch keine Garantie für Qualität ist. Léa Fazers "Bienvenue en Suisse" zum Beispiel, der Eröffnungsfilm der Nebenreihe "Un Certain Regard", bietet ein Potpourri französisch-schweizerischer Nationalklischees, das im offiziellen Programm der Croisette eigentlich ebensowenig zu suchen hat wie Wolfgang Petersens Zweihundertmillionen-Dollar-Opus "Troja". Aber so wie Petersens Film das oft brüskierte und immer wieder umworbene Hollywood repräsentiert, steht Fazers angestrengte Komödie für das Gastgeberland Frankreich. Cannes heißt eben auch Proporz.

Feuilletonkorrespondent in Berlin.
Zwischen einem richtig schlechten Film wie "Bienvenue en Suisse" und einem Meisterwerk, wie es hier jeden Tag von viertausend akkreditierten Journalisten erwartet wird, gibt es viele Zwischenstufen. Kore-Eda Hirokazus "Nobody knows", der erste Wettbewerbsbeitrag in Konkurrenz, ist ein Film, der sich nicht richtig traut, seine eigenen Stärken und Energien auf der Leinwand zu nutzen.
Gefangen in der Wohnung
Hirokazu erzählt die traurige Geschichte von vier Kindern zwischen sechs und zwölf Jahren, die von ihrer Mutter in einer Einzimmerwohnung in Tokio gefangengehalten werden, ohne Schule, ohne Besucher, ohne Möglichkeit, am Leben draußen teilzunehmen. Nur Akira, der Älteste, darf gelegentlich Einkäufe erledigen, die anderen müssen sich verstecken, weil ihre Mutter fürchtet, sonst auch diese Bleibe wieder zu verlieren. Am Anfang sieht man, wie Akiras Bruder und seine zwei Schwestern aus den Koffern kriechen, in denen sie die Mutter beim Umzug vor den Augen der Vermieterin verborgen hat.
Dann beginnt ein kurzes, beengtes Familienglück, schließlich verabschiedet sich die Mutter für ein paar Wochen, angeblich, um in einer anderen Stadt zu arbeiten, kehrt zurück und verschwindet wieder, diesmal für immer. Die Kinder versuchen, einen Anschein von Normalität aufrechtzuerhalten, doch das Geld wird knapp, zuerst fällt der Strom aus, dann wird das Wasser abgestellt. Einen Frühling und einen halben Sommer lang kämpfen sich Akira und seine Geschwister noch durch, dann stirbt Yuki, die Jüngste, bei einem Sturz, und der Gang zu den Behörden, welche die Überlebenden voneinander trennen werden, ist nur noch eine Frage der Zeit. Zuletzt sieht man die Kinder über eine Straße laufen, und das Bild friert ein. Hoffnung? Das ist ein Wort für Erwachsene.
Der Film weiß zuviel
Ebendiese Erwachsenensicht ist auch ein Problem des Films. Statt sich ganz auf die Perspektive der Kinder einzulassen, greift Hirokazu zwischendrin immer wieder zu Einstellungen, die einen topographischen oder soziologischen Überblick geben sollen, aber letztlich nur die Reinheit seiner Erzählung zerstören. "Nobody knows", keiner weiß Bescheid, das ist auch ein Versprechen, aber der Film folgt seinem eigenen Titel nicht, er weiß immer ein bißchen zuviel über seine Helden, er macht sich klüger, als er sein dürfte, und wirkt dadurch manchmal nur altklug.
Daß Paolo Sorrentinos "Le Conseguenze dell'Amore", der zweite Wettbewerbsfilm, kein Kinderspiel ist, sieht man sofort. Ein sehr ernsthafter älterer Mann (Toni Servillo) sitzt einsam in einem Luxushotel am Lago Maggiore und leidet mit stoischer Miene an Schlaflosigkeit und Melancholie. Genauso stoisch ist auch der Film, denn er läßt sich eine halbe Stunde Zeit, bis er mitteilt, daß sein Held Titta als Geldwäscher für die Cosa Nostra arbeitet, und eine weitere halbe Stunde, bis er Titta mit der Kellnerin Sofia (Olivia Magnani) zusammenbringt. Daß der Liaison kein glückliches Ende beschieden sein wird, liegt auf der Hand, aber es müssen noch viele Kaffees getrunken, Koffer geschleppt und Autos kutschiert werden, bis die Leinwand über den beiden dunkel wird, so daß der Film einer jener feierlichen Prozessionen gleicht, die man gern gelegentlich vor dem Wohnzimmerfenster vorbeiziehen sieht. Man möchte nur nicht daran teilnehmen.