Digitale Berlinale beginnt : Das Gespenst ist aus der Kiste
- -Aktualisiert am
Berlin raucht Kette: Tom Schilling als Titelheld in Dominik Grafs Kästner-Verfilmung „Fabian“ Bild: Lupa Film/Hanno Lentz
Heute beginnt die Berlinale als „industry event“ für Branchen- und Medienvertreter. Das normale Kinopublikum muss dagegen bis zum Juni warten. Aussichten auf ein Festival, wie es noch keines gab.
Die Industrie. Das sind einige hundert Filmproduzenten und -verleiher, Rechtehändler, PR-Agenten, Fernseh-Entscheider, begleitet von mehreren Dutzend Filmjournalisten, die von heute an fünf Tage lang das Filmprogramm der Berlinale streamen, begutachten, kommentieren, einzeln oder im Paket kaufen und verkaufen dürfen. Das „industry event“, das die Leitung der Berliner Filmfestspiele auf diese Weise auf die Reise durch die virtuellen Welten schickt, kulminiert am Freitag um zwölf Uhr mitteleuropäischer Zeit in der Bekanntgabe der Goldenen und Silbernen Bären, die von einer Jury aus sechs ehemaligen Bären-Gewinnerinnen und -Gewinnern verliehen werden. Danach kann man noch bis Mitternacht Festivalfilme abrufen, dann wird der Bildschirm schwarz.
Was fehlt, ist das Publikum. Nicht das breite, allgemeine Kinopublikum, das ohnehin nicht nach Berlin gefahren wäre und von den Siegerfilmen vielleicht aus den Fernsehnachrichten oder einem Beitrag in einer Kultursendung erfahren wird. Nein, das konkrete, das wirkliche Festivalpublikum fehlt dieser Berlinale, die Leute, die morgens um acht vor dem Ticketcounter und abends um elf vor dem rappelvollen Kino stehen, die Menschenmengen am roten Teppich, die Autogrammjäger vor den Hotels, die Bildersüchtigen, die Pilger der Kinematographie. Und der Applaus: der Jubel, der alles verändert, der eine Vorführung zum Ereignis, ein Branchengerücht zur Wahrheit, ein unbekanntes Talent zum Genie der Stunde macht. Das Klatschen der Hände, das Leuchten der Augen, sie fehlen am meisten, weil sie die Routine des Audiovisuellen, die auch das Kino längst im Griff hat, für einen Augenblick unterbrechen, für den einen, unvergesslichen Film.
Alle großen Festivals waren politisch
Denn die Berlinale, genau wie ihre Konkurrentinnen, ist ja gerade kein „industry event“, kein Branchentreffen, sondern eine öffentliche Feier der Filmkunst, sie hat ihren Ursprung nicht in den Mechanismen des Marktes, sondern in dem Wunsch, sie zu überwinden. Die Berliner Filmfestspiele, 1950 als Schaufenster des Westens in der geteilten Stadt gegründet, galten immer als das politischste unter den großen Festivals, aber in Wahrheit waren auch Venedig und Cannes einst Produkte der Politik. Das Filmfest am Lido diente zehn Jahre lang als kulturelles Aushängeschild des italienischen Faschismus, und das Festival von Cannes entstand 1939 als Gegenveranstaltung der westlichen Demokratien, nachdem Hitler und Mussolini im Jahr zuvor in Venedig den Hauptpreis für Leni Riefenstahls „Olympia“-Film erzwungen und Engländer, Franzosen und Amerikaner die Jury aus Protest verlassen hatten.
Was in Cannes, Venedig und Berlin passiert, ist immer noch politisch, und sei es nur in dem Sinne, dass Filmen und ihren Urhebern jene Sichtbarkeit gewährt wird, die ihnen die Diktatoren aller Art verweigern wollen. Die Filmindustrie spielt dabei eine Nebenrolle, auch wenn sie die Festivals mit den Stars versorgt, die vor dem Kinoeingang die Kameras der Fans und Fotografen aufblitzen lassen. Ohne die Industrie würden die Festivals verarmen. Ohne den realen Kontakt zum Publikum würden sie aufhören zu existieren.
Aber der „buzz“, das Marktgerede, der Branchentalk, sei für die Filme gerade in Pandemie-Zeiten lebenswichtig – so haben Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek, der künstlerische Leiter und die Geschäftsführerin der Berlinale, ihre Entscheidung begründet, das Festival in eine Online-Veranstaltung für Insider und ein für Juni angekündigtes „summer special“ für das Publikum aufzuteilen. Damit gehen die beiden Direktoren eine riskante Wette ein. Wird das „industry event“ ein medialer und geschäftlicher Erfolg, könnte die Frage aufkommen, wofür Kritiker und Branchenvertreter in Zeiten des Kinosterbens überhaupt noch echte Filmvorführungen brauchen. Geht das Kalkül dagegen nicht auf, dürfte der Imageschaden für die Berlinale größer sein, als es die pandemiebedingte Absage für Cannes im vergangenen Jahr gewesen ist.