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Kinofilm „Frau Stern“ : Den Tod bei der Arbeit aufhalten

  • -Aktualisiert am

Guter Draht zu jungen Menschen: Frau Stern (Ahuva Sommerfeld, links) weiß, wo man ein ernsthaftes Gespräch führen sollte. Bild: Neue Visionen Filmverleih

Ein Film wie ein Denkmal: Anatol Schusters „Frau Stern“ erzählt mit minimalen Mitteln von einer halbfiktiven Neunzigjährigen. Das Werk widmet er einer Frau, die erst kurz vor ihrem Tod als Schauspielerin entdeckt wurde.

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          Frau Stern würde gern ihrem Leben ein Ende machen. Sie ist alt genug dafür, wie sie meint. Zwar wirkt sie überraschend fit oder, wie die einschlägige Vokabel für betagte Menschen lautet: rüstig. Nicht einmal die vielen Zigaretten scheinen ihr etwas anzuhaben. Aber sie weiß, dass das nicht ewig so weitergehen kann. Sie kann nicht auf Dauer in Berlin unter jungen Hipstern in Neukölln so leben, als gälte die coole Unbeschwertheit auch für sie, eine Frau von neunzig Jahren. Sie hört sich um, sie sucht nach einer Waffe, und sie hat ja keine schlechten Verbindungen, sie kennt Dealer und einen Friseur, der zu ihr ins Haus kommt. Der müsste doch etwas wissen. Doch Frau Stern wird nicht ernst genommen. Sie ist eine Überlebende. Das wird sie nicht mehr los, nicht einmal durch ihren Todeswunsch.

          Im richtigen Leben hieß Frau Stern Ahuva Sommerfeld. Zu Beginn dieses Jahres war sie noch ein überraschender Stargast beim Max-Ophüls-Preis, wo der Film, in dem sie ihre einzige Hauptrolle spielte, als große Entdeckung gefeiert wurde. Der junge Regisseur Anatol Schuster hatte sie entdeckt und ihr eine Figur auf den Leib geschrieben – diese geläufige Formulierung bekommt durch den Film „Frau Stern“ eine ungewöhnliche Prägnanz, denn tatsächlich geht es sehr stark um Verkörperung, auch darum, dass ein Individuum zugleich für eine Gemeinschaft steht.

          Frau Stern ist Jüdin gleichsam mit Haut und Haar. Dass sie in Neukölln lebt, als wäre sie Teil der neuen Berliner Bohème, mag auch als ein Detail des Friedens gesehen werden, den viele junge Menschen aus Israel mit der Gesellschaft gemacht haben, aus der vor knapp achtzig Jahren der Versuch einer systematischen Judenvernichtung kam. „Ich hab Auschwitz überlebt, also werde ich auch das Rauchen überleben“, sagt Frau Stern einmal im Film.

          Raum für Interpretation

          Der Satz markiert zugleich ein kollektives Schicksal wie eine fiktionale Differenz: In der eigenen Haut hat Ahuva Sommerfeld Auschwitz nicht „überlebt“, sie war während der NS-Jahre in Palästina und kam erst später nach Deutschland. Ob Auschwitz für Frau Stern im Film eine persönliche Erfahrung war oder eher eine Chiffre ist, mit der sie sich mit einer geschichtlichen Erfahrung identifiziert, lässt Anatol Schuster markant offen. Dabei steckt eine wichtige Pointe dahinter, denn das Überleben von Frau Stern bekommt durch die Geschichte noch einmal ein anderes Gewicht. Sie schlägt, für die Dauer der knapp eineinhalb Stunden des Films, nicht nur dem eigenen Tod ein Schnippchen. Auf ihren kostbaren Stunden liegt ein anderer Akzent von Vanitas als bei einer Frau, die nie in die Nähe lebensbedrohlicher Ausschließung, geschweige denn tatsächlicher Deportation in den Tod gekommen war.

          Diese Facetten sind wichtig, denn andernfalls könnte man „Frau Stern“ zu leicht für ein problemloses Dokument besagter Aussöhnung halten. Es hat beinahe etwas Utopisches, wie Anatol Schuster den Alltag in Berlin schildert. Die jungen Leute leben wie in einem Mainstream der Minderheiten, hier kann wirklich jedes Menschenwesen nach sehr spezieller Façon selig oder zumindest bei einem großzügigen Gastmahl satt werden, und wenn es mal wo weh tut, finden sich leicht lindernde Mittel auf pflanzlicher Grundlage. Frau Stern fühlt sich in dieser Welt wohl, und davon, dass Neukölln „gefährlich“ wäre, wie sie einmal sagt, ist wenig zu bemerken.

          Widmung einer besonderen Frau

          Die unbefangene Gegenwart, die auch über das Alter von Frau Stern mit geisterabwehrender Selbstverständlichkeit hinwegsieht, konterkariert Anatol Schuster durch die beiden Figuren, die Frau Stern am nächsten stehen – ihre Tochter und deren Tochter. Die Schauspielerin und Sängerin Nirit Sommerfeld ist auch im Leben die Tochter von Ahuva Sommerfeld. Sie vertritt ein vergleichsweise orthodoxeres Judentum, mit einer größeren Nähe zum Staat Israel. Die wichtigste Bezugsperson für Frau Stern ist jedoch Elli, ihre Enkelin, gespielt von Kara Schröder. Sie lebt in der Welt der Generation, in der keine Täter von damals mehr zu vermuten sind.

          Anatol Schuster versteht seinen Film als ein „Denkmal“ für Ahuva Sommerfeld. Er hätte ohne weiteres auch einen klassischen Dokumentarfilm über sie machen können. Die Form, die er gewählt hat, gibt ihm ein wenig mehr Freiheit für die poetische Interpretation. An der einen oder anderen Stelle merkt man, dass „Frau Stern“ eine kleine Produktion ist: der Auftritt in einer Fernseh-Talkshow wirkt surrealer, als es vielleicht gedacht war. Aber die besonderen Umstände dieses Films ließen kein anderes Vorgehen zu. An eine Produktionsvorbereitung im herkömmlichen Sinn war nicht zu denken, die Gunst der Stunde musste genutzt werden.

          Der Erfolg beim Max-Ophüls-Preis, wo Ahuva Sommerfeld und Kara Schröder als beste Darstellerinnen ausgezeichnet wurden, hat das Wagnis mit „Frau Stern“ dann auch gleich bestätigt. Die deutschen Filmförderungen sind auf solche Projekte nicht eingestellt, hat Anatol Schuster bemerkt und verband damit eine Anregung: Irgendwo in den Nischen des Antragswesens sollte vielleicht auch Platz sein für Budgets, die für Projekte reserviert sind, bei denen noch nicht alles bis auf den letzten Drehbuchstaben hin ausentwickelt ist. Dafür hätte Ahuva Sommerfeld tatsächlich keine Zeit mehr gehabt. Sie starb kurz nach der Premiere von „Frau Stern“. Sie ist nun in dem Medium verewigt, das den Tod zwar nicht besiegen, aber ihm einen Trost abringen kann: In Bild und Ton, mit verrauchter Stimme und mit einem wehmütigen Blick, singt Frau Stern von einer Zeit, in der das Leben leicht ist. Eine Zeit, die es vielleicht wirklich nur im Kino geben kann, die in „Frau Stern“ aber höchst lebendig wird.

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