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Kaum bekannte Schätze
auf der Museumsinsel

Von SYBILLE ANDERL, Fotos von JAN ROEDER

29.09.2019 · Jedes Kind in München kennt die Ausstellungsräume des Deutschen Museums. Weit weniger bekannt ist dessen faszinierende Bibliothek.

Ü ber das Deutsche Museum kann jeder Geschichten erzählen, der in München oder in der Nähe von München aufgewachsen ist. Über die zahlreichen Räume voller Experimente und Exponate, die die Entwicklung der Technologien und die Geschichte der Wissenschaften vermitteln sollen, über Besuche mit dem vielleicht flugzeugbegeisterten Vater oder der Physikinteressierten Mutter, über das Lieblings-Ausstellungsstück aus Kindertagen. Wer später in das Museum zurückkehrt, stellt fest, dass vieles noch so ist, wie es immer war, und dass die Kinder, die auch heute noch jeden Tag zahlreich und in großen Gruppen teils gelangweilt, teils aufgeregt durch das große Gebäude schwärmen, diese Münchener Konstante auch in ihren Erinnerungen weiter in die Zukunft tragen werden.

Das Deutsche Museum in München die Nordfassade, an der Reichenbachbrücke Foto: Picture-Alliance

Das Gebäude, das gegenüber dem 1925 eröffneten Sammlungsbau den Innenhof des Museumskomplexes in Richtung Nordosten begrenzt, fällt dabei wahrscheinlich nicht vielen Besuchern ins Auge. Einen Fuß in das Gebäude gesetzt haben nur die wenigsten. Und das, obwohl dort ganz besondere Schätze lagern: Der Bau beherbergt die Bibliothek des Deutschen Museums, eine einzigartige Sammlung naturwissenschaftlicher und technischer Literatur. Als der bayerische Ingenieur Oskar von Miller in der Gründungssatzung des Museums 1903 dessen Zweck und Aufgabe definierte, legte er fest, dass die Vermittlung von Technik und Naturwissenschaft auf drei Säulen ruhen sollte: der Sammlung von Instrumenten, Apparaten und Werken der Technik, einem Archiv von Urkunden, Handschriften, Zeichnungen und Drucksachen sowie der Bibliothek, in der wissenschaftliche Arbeiten und Veröffentlichungen zu finden sein sollten. Die in der Ausstellung gemachten Erfahrungen sollten auf diese Weise durch entsprechende Lektüre unterfüttert und flankiert werden können.


„Der Gedanke war: Jeder soll dort reingehen können, ohne dass man fragt, ob er ein Handwerker oder ein Professor ist. Das war zu der Zeit sehr ungewöhnlich.“
Helmut Hilz, Bibliotheksleiter

Miller, der 1855 als Sohn einer angesehenen bayerischen Familie geboren worden war, hatte das Konzept eines technischen Museums bei Reisen nach Paris und London im Conservatoire des Arts et Métiers und dem South Kensington Museum kennengelernt. Im Mai 1903 stellte er seine Idee vor, etwas Ähnliches in München aufzubauen, wenig später, am 28. Juni 1903, erfolgte die Gründung des Deutschen Museums. Mit der Einrichtung der Bibliothek sollte nicht nur dem Bildungsstreben des Fachpublikums entsprochen werden, insbesondere sollte auch der Aufbau technischer Bildung in der breiten Bevölkerung unterstützt werden. „Der Gedanke war: Jeder soll dort reingehen können, ohne dass man fragt, ob er ein Handwerker oder ein Professor ist. Das war zu der Zeit sehr ungewöhnlich. Allgemein änderte sich dies erst nach dem Ersten Weltkrieg“, erklärt Helmut Hilz, Bibliotheksdirektor des Deutschen Museums, die Neuheit der damaligen Idee.

Die Karten des alten, handgeschriebenen Zettelkatalogs sind heute noch in der Bibliothek zu bewundern.

Die Bibliothek begann 1904, unterstützt durch zahlreiche Autoren, Verleger, Institutionen, Unternehmen und Privatpersonen, mit dem Aufbau ihres Bestandes. Im Januar 1908 wurde sie provisorisch zunächst im Alten Nationalmuseum an der Maximilianstraße eröffnet. Der Bau eines eigenen großen und modernen Bibliotheksgebäudes auf der Museumsinsel verzögerte sich allerdings in den Folgejahren aus verschiedenen Gründen immer weiter. Während der Sammlungsbau des Deutschen Museums 1925, an Oskar von Millers siebzigstem Geburtstag, eröffnet werden konnte, folgte das Bibliotheksgebäude erst 1932. Zu diesem Zeitpunkt konnte die inzwischen in der Schwere-Reiter-Kaserne befindliche Sammlung bereits 130 000 Bücher und Zeitschriften vorweisen, darunter viele wertvolle vor dem Jahr 1800 erschienene Werke.

H elmut Hilz leitet die Bibliothek seit 1998. Eine der ersten Aufgaben seiner Amtszeit war es, die 1995 beschlossene Digitalisierung des Bibliothekskatalogs in Angriff zu nehmen – eine wichtige Mammutaufgabe, die mittlerweile für die gesamte Sammlung vollständig abgeschlossen ist. Karten des ersten in wunderschöner Handschrift geschriebenen Zettelkatalogs, mit dem vorher seit den Jahren des Ersten Weltkriegs in analoger Form der Zugriff auf den Bestand organisiert wurde, sind heute noch im Lesesaal zu bewundern. Die langgestreckten mit Tischen gefüllten Räume, in denen während der Öffnungszeiten des Museums ein bunter Querschnitt von Besuchern in Bücher und Aufzeichnungen vertieft zu finden ist, verströmen eine der Zeit entrückte Atmosphäre still konzentrierter Arbeit. Auf rund 25 000 Bände bietet der Freihandbestand Zugriff, speziellere Literaturwünsche können bestellt werden. Das ursprüngliche Ziel der Gründungsväter sei die Einrichtung einer umfassenden Zentralbibliothek für Technik, Mathematik und Naturwissenschaften gewesen, berichtet Hilz. Dieses Vorhaben entpuppte sich aber angesichts limitierter finanzieller Mittel und eines explodierenden Wachstums der entsprechenden Literatur, insbesondere seit den Fünfzigern auch außerhalb des deutschsprachigen Raums, als viel zu hoch gegriffen. Es war daher schließlich eine Spezialisierung der Bibliothek vonnöten: „Heute ist der Anspruch, dass man mit der vorhandenen Literatur einen Bachelor in Maschinenbau oder Chemie machen könnte. Aber wenn es an den Master oder die Dissertation geht, dann ist das Angebot nicht speziell genug. Das wird nur in der Wissenschafts- und Technikgeschichte abgedeckt. Hier aber auf höchstem Niveau“, so Hilz.

Helmut Hilz, seit 1998 Leiter der Bibliothek des Deutschen Museums, sieht der Zukunft optimistisch entgegen: Es gebe keinen erkennbaren Grund zu vermuten, dass es mit der Existenz von Bibliotheken bald vorbei sei.

Noch heute speist sich die Sammlung aus Ankäufen, Schenkungen und Tausch mit anderen Bibliotheken. Dabei stellen zahlreiche deutschsprachige Verlage der Bibliothek ihre Publikationen kostenlos zur Verfügung, aber auch Unternehmen und öffentliche Einrichtungen tragen mit Schenkungen zur kontinuierlichen Vergrößerung des Bestandes bei. Eine besondere Rolle spielen aber Schenkungen von Privatpersonen. Die Faszination privater Sammlungen, die von oft außergewöhnlichen Lebensgeschichten zeugen, ist Hilz anzumerken, wenn er von einigen besonders eindrucksvollen Übereignungen berichtet. Beispielsweise von der einzigartigen Luftfahrtsammlung des bayerischen Oberst Karl von Brug, der vor dem Hintergrund seiner eigenen privaten und dienstlichen Beschäftigung mit der Luftschifffahrt seltene frühe Bücher und Druckgrafiken zu dem Thema sammelte und diese schon 1905 der Museumsbibliothek übertrug – mit dessen Gründer Oskar von Miller er zusammen an der Technischen Hochschule das Ingenieursstudium bestritten hatte. Oder von einer der eindrucksvollsten Übertragungen jüngerer Zeit durch den Stuttgarter Unternehmer Helmut Fischer, dessen Sammlung wissenschaftshistorisch bedeutsamer Werke bis ins sechzehnte Jahrhundert zurückreicht und ihren Schwerpunkt in der wissenschaftlichen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts besitzt. Fischer, der selbst hochsensible Messgeräte entwickelt, habe die historischen Werke immer auch als besondere Motivation für seine Arbeit verstanden, berichtet Hilz.

Isaac Newtons „Opticks“, erstmalig 1704 veröffentlicht, ist in der englischen Version weit weniger verbreitet als die später erschienenen lateinischen und französischen Übersetzungen.

Um die Erhaltung der Sammlung für die Zukunft sicherzustellen, suchte Fischer 2008 das Gespräch mit dem Deutschen Museum. Das Treffen und die damalige Schilderung seiner Sammlung, in der sich beispielsweise zwei frühe Ausgaben von Newtons „Principia mathematica“ neben seltenen Veröffentlichungen von Max Planck, Niels Bohr oder Albert Einstein befinden, hat Hilz noch immer als besonders eindrucksvolle Erfahrung in Erinnerung. Fischer ist seitdem auch über die Schenkung hinaus zu einem stetigen Förderer des Deutschen Museums geworden.

Die seltensten und wertvollsten Stücke der Sammlung, die „libri rari“, werden in einem besonders gesicherten und Besuchern nicht zugänglichen Raum aufbewahrt. Sofern man eine wissenschaftliche Motivation vorweisen kann, erhält man auf diese Bücher Zugriff im „Rara-Leseraum“. Die kostbaren Werke liegen dann vorsichtig auf einen großen runden Holztisch gebettet zur Ansicht bereit. Das älteste ist das 1482 in der Werkstatt von Erhard Ratdolt in Venedig gedruckte Poeticon astronomicon des Hyginus Mythographus, doch auch Werke nachfolgender Jahrhunderte, wie die bahnbrechenden Veröffentlichungen von Nikolaus Kopernikus, Galileo Galilei oder Isaac Newton, lassen den Betrachter ehrfürchtig der Leistungen vergangener Naturforscher gedenken, oder, wie beispielsweise anhand der abbildungsreichen Werke der Luftschiffliteratur, sich an der Schönheit technischer Darstellungen erfreuen. Der Wert der Sammlung ist allerdings schwierig zu schätzen. „In der Rara-Sammlung gibt es Stücke, die man in Antiquariatskatalogen schon bei über einer Million Euro gesehen hat“, sagt Helmut Hilz, gibt aber gleichzeitig zu bedenken, dass der Wert einer Sammlung sich schließlich aus der spezifischen Zusammenstellung der Werte ergibt, und damit den Wert der Einzelstücke übersteigt.

  • Johannes Keplers Schrift „Harmonices Mundi“, erstmalig erschienen 1619, verdeutlicht die Zusammenhänge zwischen Planetenbewegung und Sphärenharmonie.
  • Private Schenkungen verleihen der Sammlung einzigartige Schwerpunkte, wie beispielsweise die ballonhistorische Sammlung des Oberst von Brug.
  • Das Deutsche Museum verfügt über sämtliche Ausgaben der Wissenschaftszeitschrift „Nature“ seit 1869. Dort wurde am 23. Januar 1896 „Professor Röntgen’s Discovery“, die Entdeckung der Röntgenstrahlung, beschrieben.

Wer die besonderen Werke der Sammlung ohne besondere Zugangserlaubnis studieren möchte, kann dies bald in digitaler Form tun: Google scannt gegenwärtig alle Bücher, die älter als 140 Jahre sind, und überträgt der Bibliothek im Gegenzug digitale Kopien. Nicht nur das Deutsche Museum nutzt diesen Service des Datengiganten, viele namhafte Sammlungen wie die der Bayerischen Staatsbibliothek und der Österreichischen Nationalbibliothek sind diesen Schritt bereits gegangen. Werden analoge Bibliotheken irgendwann von digitalen abgelöst? Hilz glaubt das nicht: „Ich frage mich, ob nicht dadurch, dass man durch die Digitalisierung viel mehr und sehr schnell zugänglich hat, dass man also viel mehr – wenn auch flüchtig – kennenlernt, was früher nur ganz wenigen vorbehalten war, die Wertschätzung des Originals nicht sogar wieder wächst.“ Außerdem sei ein wichtiger Punkt, dass das physische Original nicht so leicht manipulierbar sei wie digitale Medien. In Zeiten von Fake News könne die Möglichkeit von Wahrheitsnachweisen am Original eine wichtige Rolle spielen. Bibliotheken würden dadurch letztlich zu einem demokratieerhaltenden Instrument.


„Ich frage mich, ob nicht dadurch, dass man durch die Digitalisierung viel mehr und sehr schnell zugänglich hat, dass man also viel mehr – wenn auch flüchtig – kennenlernt, was früher nur ganz wenigen vorbehalten war, die Wertschätzung des Originals nicht sogar wieder wächst.“
Helmut Hilz, Bilbliotheksleiter

Die Schätze des Deutschen Museums, die „libri rari“, können im Rara-Raum zu Forschungszwecken eingesehen werden.

In dieses Bild passt auch der Anspruch des Deutschen Museums, ein neutraler Ort zu sein, an dem man sich von Naturwissenschaft und Technik ein Bild machen kann, ohne dass kommerzielle Interessen im Spiel sind, ein Ort, an dem das vermittelte Wissen keinen irgendwie gearteten Filter durchläuft. Es ist zu hoffen, dass die Wichtigkeit dieses Anspruchs auch künftigen Generationen weiter einleuchtet. Helmut Hilz jedenfalls ist Optimist: „Bibliotheken sind mit die ältesten Einrichtungen, über die die Menschheit verfügt. Es gibt keinen erkennbaren Grund zu vermuten, dass es mit der kontinuierlichen Existenz dieser Einrichtung bald vorbei sein könnte.“

Deutsches Museum | Bibliothek
Museumsinsel 1
80538 München

Täglich geöffnet, auch am Samstag und Sonntag, von 9:00 bis 17:00 Uhr.
An den Sonn- und Feiertagen besteht der gleiche Benutzungsservice wie an den Werktagen.

Der Eingang der Bibliothek befindet sich im Museumsinnenhof,
gegenüber dem Haupteingang des Deutschen Museums.

Quelle: F.A.Z.

Veröffentlicht: 29.09.2019 14:38 Uhr