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Kolumne „Bild der Woche“ : Das Strahlen der Blumen

  • -Aktualisiert am

„Unknown specie. Exclusion Zone, Chernobyl. Radiation level: 1.7 Microsieverts/hr“ Bild: Anaïs Tondeur

Eigentlich suchte ich nach einer seltenen Schallplatte, aber dann fand ich in Chinatown das kleine Buch „The Chernobyl Herbarium“. Die Pflanzen bringen die Radioaktivität ans Licht.

          3 Min.

          Diese Pflanze konnte kein Botaniker identifizieren. Sie wirkte auf mich wie ein Zauberstab, ich zählte die Staubfäden. Zehn. Welche Art ist das? Welche Gattung? Ein Fingerchen leuchtet ganz stark, als würden Glühwürmchen darauf sitzen, ein paar andere sind am Erlöschen. Welches Feuer hat hier getobt?

          Das Buch mit dieser leuchtenden Pflanze hätte man leicht im Internet finden, kostenlos anschauen und lesen können – ich aber habe es im bunten New Yorker Dickicht entdeckt. Auf der Suche nach einer seltenen Schallplatte bin ich durch Chinatown gelaufen. Zwischen unbekannten Arten von Obst und Gemüse, Kinderkleidung, Unterwäsche und Schuhen aller Farben aus Plastik fand ich das kleine Buch „The Chernobyl Herbarium“. Mit seinen lumineszenten schwarz-weißen Fotos wirkte es wie ein Relikt, strahlte in dem Geschäft wie eine Botschaft aus unbekannten Zeiten, ein ungeorteter Heimatgruß. Es war ein fotografisches Erlebnis: Die Fotos selbst entwickelten sich in einer fremden Umgebung.

          Als ich im Buch blätterte, traten die schweigenden Pflanzen aus ihrer Dunkelheit hervor, als wären sie Teil des längst Vergessenen, Verdrängten, als liefe man durch einen märchenhaften Wald; kurz gefangene und dann doch wieder entwichene Erinnerungen. Ein Urwald? Dass es sich hier um Pflanzen aus Tschernobyl handelte, machte die Betrachtung noch besonderer, noch bodenloser, denn wie kann man Tschernobyl wahrnehmen? Die Zone der Entfremdung ist ein Experimentierfeld für die Rückkehr der wilden Natur.

          Tschernobyl bedeutet „Bitteres Gras“

          Das Buch „Chernobyl Herbarium. Fragments of an Exploded Consciousness“ besteht aus 30 Essays von Michael Marder und 31 Photogrammen von Anaïs Tondeur. Zusammen stellen sie die unsichtbare Radioaktivität ins Licht, zum Nachdenken, einunddreißig Jahre nach der Katastrophe. Das Herbarium selbst hat eine Gruppe slowakischer Biogenetiker ersammelt, um die Wirkung der Radioaktivität auf die Flora in der Zone zu analysieren. Die Pflanzen wurden auf fotosensitive Platten gelegt und ohne Kamera „abgebildet“. „Rayograms“ nennt sie Tondeur und verweist damit auf die Methode von Man Ray. Die Pflanzen hinterlassen ihre Spuren, sie leuchten dort, wo Radioaktivität „verweilte“ und gespeichert ist.

          Die große Katastrophe entfaltet sich en miniature, die Pflanzen sind Abbildungen des Geschehens, sie verkörpern die Fragmente der zerfallenen Welt. Von der Gestalt der majestätischen Lira (Linum usitatissimum) bis zum Strauß von Sternchen (Linaceae) – in einem langsamen Schritt entwickelt sich hier ein Drama, ein Mysterium ohne Ende.

          Selbst der Ort des Geschehens, „Tschernobyl“, wird zum König des Pflanzenreichs, denn das Wort bedeutet „bitteres Gras“ oder „Wermut“ (Gattung Artemisia), wie der Stern aus der Apokalypse, „Wermut“, der auf die Erde fiel und die Gewässer vergiftete, so dass viele Menschen starben. Es bleibt aber ein Geheimnis, was genau auf dem Bild durch die Strahlung entstanden ist und was durch die chemische Bearbeitung. Die Fotos geben die symbolische Strahlung wieder, die Strahlung an sich, in ihrer leuchtenden und vernichtenden Ambivalenz.

          Eine Szene aus der Apokalypse

          Auch „Unknown species“ mit den zehn Fingern schimmert zwischen Symbol, Allegorie und Gegenstand. Das Bild ruft zahlreiche Assoziationen hervor: eine Chanukkia mit einem extra Leuchter? Ein Dekalog? Ein Juwel? Gehört das Leuchten zur Natur dieser Pflanze oder ist es Spur der Bedrohung? Je länger ich auf das Bild schaue, desto zärtlicher und zerbrechlicher erscheint mir diese Pflanze. Ist es eine mutierte Pflanze, neu und einsam auf der Welt?

          „Neues von Blumen“ hieß eine Rezension von Walter Benjamin über die einzigartige Fotosammlung von Karl Blossfeldts „Urformen der Kunst – Wundergarten der Natur“, in der er Hunderte von Pflanzen zeigt, in der reinen architektonischen Sterilität ihrer Formen. Ich hatte nach unserer Unbekannten auch in diesem Pflanzenglossar gesucht.

          Aber die Pflanzen von Tschernobyl sind aus einer Welt, die nicht mehr intakt ist, in der selbst der Verstand seine Halbwertszeit hat. Die Formen der Natur zeigen das Poröse und Fragmentarische. Lange Zeit überlegte ich, was mir diese Waisenpflanze in Erinnerung ruft, bis ich mich an ein Fresko von Giovanni Menabuoi in Padua erinnerte. Eine Szene aus der Apokalypse: Ein Ungeheuer steigt aus dem Meer, es hat sieben Köpfe, auf denen zehn kleine Mützen wie Diademe leuchten. Schön, unheimlich schön. Ein alarmierendes Glimmen, das niemals nachlässt.

          Für Anastasia

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