Wo „Zwischen Welten“ herkommt, der neue dialogische Roman von Juli Zeh und Simon Urban, gibt es noch mehr. In der Schublade der Autorin liegt ein unvollendeter „E-Mail-Roman“, betitelt „Wolfenstein“. Einen Auszug daraus hat Zeh jetzt dem Literaturmagazin „Text + Kritik“ übergeben, das ihr seine aktuelle Ausgabe widmet (109 Seiten, 28 Euro). „Zu meiner Schreibpraxis gehört es, viele Texte zu schreiben, die ich irgendwann aufgebe, vor allem Romane“, erläutert Zeh dazu in einer kurzen Notiz. „Je länger der letzte Arbeitstag an einem bestimmten Text zurückliegt, desto unwahrscheinlicher wird es, dass ich ihn noch fortentwickele. Das ist das ‚Survival of the Fittest‘ in meinem kreativen Prozess.“
Die zwanzig Seiten „Wolfenstein“ hatte Zeh 2009 begonnen, im Jahr als ihre Gesundheitsdiktatur-Dystopie „Corpus delicti“ erschien, die Zehs Kollege Daniel Kehlmann später als „prophetisches Buch“ vermeintlich übergriffiger Corona-Maßnahmen bezeichnet hat. Die Studentin Lilo, darum geht es wohl, schreibt an einer Magisterarbeit über „Größen der modernen Theaterwelt“ und sendet dem Ehemann der Schauspielerin Franziska einige Fragen zur Weiterleitung per E-Mail. Franziska schickt ihre Antworten an Lilo aber an Roland. „Liebling, Du hast wieder mal aus Versehen die Reply-Taste gedrückt“, antwortet der, „die Mail ging an mich, den ‚Weiterleiter‘. Ich schicke sie an diese Lilo, ok? Küsse Dich, R.“
Juli Zeh – das vermittelt das „Text + Kritik“-Heft in fast allen Beiträgen – ist eine gesellschaftspolitisch engagierte, an der Gegenwart und ihren Phänomenen entlang schreibende Autorin, die aus ihrem Jurastudium einen literarischen Scharfsinn der Multiperspektivität und Objektivität gewonnen hat. Der Germanist Stephen Brockmann bescheinigt Zeh „Weitsicht“ und eine „beachtenswerte Konsistenz ihrer Vision“. Die Germanistin Agnes Mueller, eine Cousine der Autorin, gratuliert Zeh dazu, in ihren Romanen „eine soziale Topografie zu entwerfen, die einen hohen Authentizitätsanspruch stellt“. Zeh selbst sagt in einem Gespräch, das der Herausgeber Heinz-Peter Preußer für dieses Heft geführt hat: „Mein Wunsch ist, dem Leser eine möglichst mitreißende, glaubwürdige Geschichte zu erzählen, lebendig und lebhaft, fast ‚wie echt‘.“
Mittel zum Zweck ist also die uneindeutige Perspektive der Erzählung, organisiert als E-Mail-Roman. Oder Whatsapp-Austausch. Mit wechselnden Hauptfiguren. Es gibt nicht die eine Wahrheit. Oder, wie es Zeh selbst einmal gesagt hat: „Die Frage, ob etwas ein Verbrechen ist oder nicht, hängt doch immer davon ab, wie die Geschichte erzählt wird.“ Dass Agnes Mueller ihrer Cousine einen Brief schreibt, um darin wortreich zu verweigern, Details aus dem Leben der „lieben Juli“ zu verraten, korrespondiert damit. Es herrscht, ungewöhnlich bei einer Autorin, die sich doch der Verteidigung der Vielstimmigkeit verschrieben hat, in dieser literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Juli Zeh größte Einigkeit darüber, dass sie in diesen erzählerischen Perspektivwechseln brilliert.
„Keine hermeneutische Komplexität“
Einzig Matteo Galli traut sich, vom Konsens abzuweichen. Er widmet sich Zehs Dorfroman „Über Menschen“ von 2021, in dem sich eine Aussteigerin und ein Nazi anfreunden (als Vision einer Gesellschaft, die sich nicht von Parolen verblenden lässt). Darin sei nun gar keine Multiperspektivität am Werk, stellt Galli fest, sondern nur die eine Erzählerin, die immer wieder unterschiedliche Figuren in den Blick nimmt: „Durch diese Erzähltechnik wird in keiner Hinsicht hermeneutische Komplexität hergestellt, sondern vielmehr ein allmähliches, langsames, mechanisch parallelisiertes, horizontales Fortgehen der Handlung.“
Und auch der kurze Auszug aus dem unvollendeten „Wolfenstein“ zeigt ja, wie kommentiert die Multiperspektivität bei Juli Zeh ist. Sie greift, immer sichtbar, als Organisatorin der Perspektiven ein. Welcher Mann würde seiner Frau in einer privaten Nachricht schreiben, dass er doch nur der Weiterleiter einer Mail sei – und den Begriff dann auch noch in Anführungsstriche setzen? Ähnliche erzählerische Unbeholfenheiten finden sich auch im neuen Bestseller „Zwischen Welten“, wenn sich die beiden Figuren immer wieder genau erklären müssen, über was sie gerade reden, damit man beim Lesen ja mitkommt.
Hinter diesen Unbeholfenheiten erkennt man eine Autorin, die nichts dem Zufall überlässt, wenn sie so tut, als würde sie freie Menschen in freier Ausübung ihrer Freiheit frei reden lassen. „Mit dem neuen Buch treten wir für Differenzierung ein, für perspektivische Vielfalt, für Pluralismus, für die Ambivalenz und Vielschichtigkeit der Literatur“, hat Zeh gerade in einem Interview mit der „NZZ“ gesagt. Nur ist hier gar nichts ambivalent. Es ist gelenkte Literatur, die alles für verhandelbar erklärt, nur nicht die Autorität ihrer Autorin.