Jürgen Habermas : Die Vernunft in der Gesellschaft
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Mündliche Belege für Lebendigkeit und Vernunft
Die Grundlage einer vernünftigen Identität der Weltgesellschaft fand Habermas entsprechend „im Bewusstsein der allgemeinen und gleichen Chancen der Teilnahme an wert- und normbildenden Lernprozessen“. Mit anderen Worten: Nur in der weltweiten Durchsetzung von Demokratie, Öffentlichkeit und Bildung könnte jene Identität sich herausbilden. Hier konnte man schon 1974 heraushören, worauf sein Hauptwerk, die „Theorie des kommunikativen Handelns“, 1981 hinauslaufen sollte. Auf den Nachweis nämlich, dass allein schon im argumentativen Gebrauch der Sprache in jenen Lernprozessen universalistische Perspektiven im Spiel sind.
Wer argumentiert, nimmt danach nicht nur Tatsachen und ein Mindestmaß an Logik in Anspruch, sondern stellt sich auch unter den Anspruch, seine Gründe zu verallgemeinern. „Kommt, reden wir zusammen“, heißt es in einem Vers von Gottfried Benn, „wer redet, ist nicht tot.“ Habermas geht noch weiter. Denn für ihn ist die öffentliche Unterredung, sind Diskussionen über praktische Probleme alltäglichen Zusammenlebens, sofern sie nur richtig geführt werden, Belege nicht nur für Lebendigkeit, sondern von Vernunft. Jede Behauptung unterstelle nämlich, so seine sprachphilosophische Position, dass kompetente, vernünftige Beurteiler der Sache, über die etwas behauptet wird, der Behauptung zustimmen würden. Behauptungen sind mithin nur ernst zu nehmen, wenn sie sich der Überprüfung durch andere öffnen. Sofern die Teilnehmer eines solchen Gesprächs also kompetent sind, ist ihr Konsens ein Wahrheitskriterium.
Komplexe Gesellschaften könnten, so gesehen, eine vernünftige Identität umso mehr ausbilden, als sie Chancengleichheit aller Individuen für die Teilnahme an politischen Diskussionen verwirklichen. Die Gefahr, dass dabei Vernünftigkeit oder „Kompetenz“ leicht zu einer moralisierten Eintrittsbedingung und Abbruchformel für solche Diskussionen werden, hat Habermas allerdings so wenig beleuchtet wie die medialen Voraussetzungen weltweiter Debatten über Normen. Auf Instagram werden Fotografien und nicht Begründungen ausgetauscht, auf Twitter Informationen und Reflexe mehr als Argumente, und schon das Fernsehen wäre als Instanz eines aufgeklärten Selbstgesprächs der Gesellschaft wohl missverstanden. Sein Augenmerk hat Habermas stattdessen auf andere Hindernisse vernünftigen Diskutierens gelegt. Für ihn setzt dieses voraus, dass Kommunikation nicht von strategischen Motiven ihrer Teilnehmer überformt ist. Es gilt also beispielsweise mehr für den Presseclub als für das Parlament und mehr für das universitäre Seminar als für den Presseclub.
Wahrheitsliebe und Müdigkeit
Die „ideale Sprechsituation“ ist für ihn frei von Macht-, Konkurrenz- oder Tauschbeziehungen und darum auch frei von Rhetorik. In ihr zählen nur gute Gründe. Alle von der Entscheidung, um die es geht, Betroffenen sind zur Diskussion eingeladen. (Niklas Luhmann erlaubte sich die Rückfrage: Auch die noch nicht Geborenen?) Die Beteiligten sind in der idealen Sprechsituation außerdem weder erschöpft noch auf dem Sprung zu etwas anderem noch affektiv durch anderes als Wahrheitsliebe verbunden: „Nur dann herrscht der eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments.“
Es sind Dutzende von Einwänden gegen diese Theorie – oder soll man sagen: diese Utopie? – gemacht worden. Ein neunzigster Geburtstag ist kein Anlass, sie zu wiederholen. Vielmehr gilt geradezu in Umkehr einer Intuition von Habermas: Nicht der Konsens, sondern der Dissens beweist unter Umständen die Vernünftigkeit einer Diskussion, begrenzt allerdings auch ihre Möglichkeit, zu politischen Entscheidungen zu führen.
Jürgen Habermas hat nicht zuletzt mit der kontraintuitiven wie kontrafaktischen Behauptung, ein vernünftiges Gemeinwesen sei möglich, seit mehr als sechzig Jahren die Öffentlichkeit belebt. Empirisch gibt es manche Dinge nicht, für die wir aber Begriffe haben. Immanuel Kant zufolge haben sie „einen vortrefflichen und unentbehrlich notwendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten“. Auch wenn es also mit der Vernunft, dem Konsens als Wahrheitskriterium und der Identität nicht so weit her sein mag, ist das kein Grund, Jürgen Habermas nicht dankbar zu sein für ein Werk, das uns insistent Gründe dafür abverlangt, weshalb wir es anders sehen.