Jüdische Geschichte : Leben jenseits des Holocaust
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8-10/2008, September 2008 Berliner Wissenschafts-Verlag Bild:
Transnationale Sicht: Die Zeitzschriften „Osteuropa“ und „Ost-West. Europäische Perspektiven“ widmen ihre aktuellen Ausgaben der Kultur, Geschichte und Gegenwart der osteuropäischen Juden. Aufgrund der häufigen Fokussierung des Holocaust, sind hier viele Lücken zu füllen.
Der Kultur, Geschichte und Gegenwart der osteuropäischen Juden widmet sich sowohl die jüngste Ausgabe der Zeitschrift „Osteuropa“ als auch das aktuelle Heft von „Ost-West. Europäische Perspektiven“. Gefördert wurde die Herausgabe des über fünfhundert Seiten umfassenden „Osteuropa“-Bandes von der Stiftung „Erinnerung Verantwortung und Zukunft“. Ihre Vertreterin Gabriele Freitag begründet dies nicht zuletzt mit den Ergebnissen einer hiesigen Schulbuchstudie aus dem Jahr 2003, nach der die Behandlung der deutsch-jüdischen Geschichte im Unterricht viel zu sehr auf die Vernichtungspolitik beschränkt sei.
Sie plädiert für eine transnationalen Sicht, die vor allem auch Lücken in der Darstellung ostjüdischer Geschichte schließen soll, habe doch gerade in Ostmittel- und Osteuropa das „Bedürfnis nach nationaler Selbstbehauptung in den letzten Jahren wenig Raum für multiethnische Perspektiven gelassen“. Gelassener sieht der in Amerika lehrende Antony Polonsky die Dinge in seinem Beitrag über die polnischen Juden. Er weist darauf hin, dass schon seit etwa Ende des neunzehnten Jahrhunderts die zunächst noch über mehrere Länder verstreute polnisch-jüdische Gemeinde politisch stark gespalten war. Zwar erschwerten innere Konflikte den Zusammenhalt der polnisch-jüdischen Schoa-Überlebenden, deren Zahl in Polen unmittelbar nach dem Krieg noch rund dreihunderttausend betrug - heute sind es Polonsky zufolge offiziell nurmehr fünf-, insgesamt jedoch schätzungsweise dreißigtausend. Ausschlaggebend allerdings für die Massenauswanderung polnischer Juden in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg waren nicht Meinungsdifferenzen, sondern Antisemitismus, der repressive Charakter des Kommunismus und auch das nachhaltige Trauma des Holocaust. Noch lange danach war das Bild von den jüdisch-polnischen Beziehungen von Mythen geprägt, eine „moralische Aufarbeitung“ der gemeinsamen Geschichte stehe noch aus. Polonsky ist jedoch zuversichtlich und hofft - auch im Hinblick auf die Ukraine und Litauen - auf eine „zweite Phase“, in der „Apologeten und Apologien von sorgfältiger, detaillierter Forschung und verlässlichen, differenzierten Zeitzeugenberichten ersetzt werden“.
Die heutige Lebenswirklichkeit der osteuropäischen Juden
Zu einer solchen Versachlichung trägt nun die in diesem Jahr auf Englisch erschienene YIVO-Enzyklopädie zum osteuropäischen Judentum bei - das erste Nachschlagewerk seiner Art. Dessen Mitherausgeber Gershon David Hundert informiert in „Osteuropa“ über Entstehung und inhaltliche Schwerpunkte dieser Enzyklopädie, an der 451 Autoren aus neunzehn Ländern beteiligt waren. Zum erstenmal wurde auch die umfangreiche Memorialistik der Überlebenden berücksichtigt, wobei der Schwerpunkt weniger auf der Judenvernichtung als auf einer umfassenden Darstellung jüdischen Lebens in Osteuropa liegt. Dahinter steht das Credo der Herausgeber, dass das osteuropäische Judentum nicht ausschließlich über die Schoa definiert werden dürfe.