Sondierungsgespräche : Wir waren zu freundlich
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Der schleswig-holsteinische Umweltminister Robert Habeck lässt sich von Fischern im Flensburger Hafen ein Schutzsystem erklären, das den Beifang von Schweinswalen reduzieren soll Bild: Michael Staudt / VISUM
Wie wir bei den Jamaika-Verhandlungen vom Balkon winkten und suggerierten, die Sache sei geritzt – während kaum ein Konflikt ausgesprochen werden konnte. Ein Gastbeitrag.
Als die Jamaika-Regierung in Schleswig-Holstein gebildet war, begann die heiße Phase des Bundestagswahlkampfes. Aber er zündete nicht. Weder insgesamt noch bei den Grünen. Als ginge es um nichts, chillte Deutschland durch den Sommer. Die Umfragen aller Parteien waren wie in Stein gemeißelt.
Ich machte Wahlkampf bei lauter Kreisverbänden. Wieder, wie während der Urwahl, reiste ich mit der Bahn kreuz und quer durch die Republik, hielt Reden und besuchte Firmen und Bauernhöfe. Ich erlebte ein Sommerland, das sich für alles interessierte, nur nicht für Politik. Ich sah die Armut in den Bahnhöfen und saß mit müden Schichtarbeitern im Ruhrpott morgens um fünf in der S-Bahn. Ich flog von München nach Hamburg und ging an den Flughafenshops mit ihren Edelmarken vorbei, wo Wohlstand pervers wird. Ich besuchte Tierställe und streichelte die Kälber, die bald geschlachtet werden würden, und sah die Menschen bei McDonald’s Schlange stehen. In mir wurde das Gefühl immer stärker, hier passt irgendetwas nicht zusammen, ganz fundamental nicht. Ich hielt meine Reden mit dem grünen Standardprogramm, ich kochte mit dem Kreisverband Bielefeld auf dem Marktplatz aus Gemüseresten – alles wurde wohlwollend aufgenommen.
Aber ich hatte das Gefühl, so richtig kriege ich keinen Fuß in die Tür. Ja, das Land veränderte sich rasant, das spürte ich und ich konnte es auch anhand von Zahlen zur Altersarmut oder zur demografischen Entwicklung beschreiben, ich kannte die Analysen und Aufsätze, die beschrieben, wie das Internet der Dinge die Herrschaft über die menschliche Kommunikation übernehmen würde. Aber obwohl ich mittendrin war, hatte ich nicht das Gefühl, ein Akteur zu sein. Und weil ich das so deutlich empfand, traue ich mich zu vermuten, dass es Merkel, Schulz oder Lindner nicht anders ging. Und dass man das im Wahlkampf aller Parteien merkte.
Aus Desorientierung wird politische Desintegration
Der französische Soziologie Émile Durkheim schrieb 1897 ein Buch über den „Selbstmord“ und analysiert in ihm den Zustand der Desorientierung. Diesen subjektiven Zustand übertrug er auf die Gesellschaft. Die Desorientierung einer Gesellschaft nannte er „Anomie“, also Unordnung. Durkheim attestierte den anomischen Gesellschaften seiner Zeit den Verlust von Werten und Normen, die damals vor allem religiös geprägt waren. Die sich schnell entwickelnde Gesellschaft der Industrialisierung mit ihren neuen Fabriken und Massenquartieren und Arbeitsteilung wischte die alte feudale Ordnung weg bzw. ließ eine Gesellschaftsordnung zerfallen. Es gab die ländliche Bauerngesellschaft und die städtische Arbeitergesellschaft, die aber nicht mehr ein gemeinsames Wertekorsett hatten.
Ohne solche Ordnungskategorien aber macht sich ein Gefühl von Unsicherheit breit, das Unzufriedenheit und sogar Angstzustände auslösen kann. Aus der Desorientierung wird eine politische Desintegration. Weder die alten Ordnungskategorien noch die Sprache der Politik greifen noch angesichts der Komplexität, Unübersichtlichkeit und Geschwindigkeit des Wandels. Umgekehrt ist es sogar so, dass die vorgegaukelte Sicherheit eines intakten Ordnungssystems erst recht destruktiv wirken kann, wenn sie als Schimäre entlarvt wird. Und die mulmige Frage, die in mir in diesen Sommerwochen rumorte, lautete, ob nicht auch ich Teil der Vortäuschung falscher Sicherheit war.
Am Ende zog der Wahlkampf dann doch nochmal an. Wir Grünen machten 8,9 Prozent – nur wenig besser als 2013, aber exakt das Ergebnis der Umfragen vom Januar. Ein Jahr wie ein Zirkelschluss. Wir feierten das Ergebnis als großen Erfolg. Der Jubel bei der Wahlfeier in Berlin war allerdings auch zu einem Gutteil Erleichterung, dem Teufel Niederlage noch einmal von der Schippe gesprungen zu sein.