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Interview : Ulrike Draesner: Über den Körper schreiben

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Zu Gast in den Literaturhäusern: Preisträgerin Ulrike Draesner

Zu Gast in den Literaturhäusern: Preisträgerin Ulrike Draesner Bild: Brigitte Friedrich

„Mitgift“, der zweite Roman von Ulrike Draesner, zählt zu den wichtigsten Neuerscheinungen dieser Saison. Ein Interview mit der Autorin.

          4 Min.

          In „Mitgift“ erzählt Ulrike Draesner eine Familien- und eine Liebesgeschichte. Es geht um ungleiche Paare, um den Körper als letzten eindeutigen und uneindeutigen Bezugspunkt der eigenen Identität. Für „Mitgift“ erhielt die Autorin den „Preis der Literaturhäuser“. Die anerkannte SWR-Bestenliste führt das Buch unter den zehn wichtigsten Neuerscheinungen dieser Saison. FAZ.NET sprach mit Ulrike Draesner über die Arbeit an ihrem Roman, über Körperlichkeit und den Zusammenhang von Literatur und Bildender Kunst.

          Frau Draesner, wie ist Ihr zweiter Roman entstanden?

          Es gibt zwei Handlungsstränge in „Mitgift“, zum einen die Liebesgeschichte zwischen Aloe und Lukas, und dann die Geschichte zwischen Aloe und Anita, den beiden Schwestern. Mitten im Schreiben kamen mir einmal Zweifel, ob es nicht eigentlich zwei verschiedene Romane sind. Das letzte Jahr der Arbeit habe ich dann von den beiden Teilen her aufeinander zu geschrieben, die Geschichten miteinander vernetzt und die Beziehungen enger gemacht.

          Ein komischer Prozess: Man ist schon im Bauen und entwirft dabei noch die letzten Formen des Hauses, das es dann letzten Endes wird. Man rückt ein Zimmer ein oder macht einen Durchgang an eine Stelle, wo keiner war. Man findet plötzlich noch mal eine Treppe nach unten, wo es abgeht in die Vergangenheit - in den Keller, zu den berühmten Leichen. Und nachdem die eine Figur, Lukas, ja Astrophysiker ist, geht es auch manchmal ganz steil hinauf.

          Der Körper ist ein zentrales Sujet des Buches. Es geht um Magersucht, um Geschlechtseindeutigkeit und -uneindeutigkeit, das eigene und das andere Kind. Wie ist der Roman um diese Motivkette herum entstanden?

          Der Körper spielt auch in meinen Gedichten eine wichtige Rolle. Wie die Frage danach, wie wir unseren Körper wahrnehmen, wie wir die Welt über unseren Körper wahrnehmen. Wo hört man auf, wo fängt man an? Und wie weit beeinflussen einen die Körper um einen herum? Wenn ich jetzt auf die Mitgift zurückschaue, sehe ich, wie viele Facetten männlicher Sexualität, weiblicher Sexualität, aber eben auch der Eltern-Kinder-Verhältnisse sich da einordnen. Körper, das heißt auch Alltag, bedeutet Film- und Werbungsbilder, Essen, U-Bahn fahren.

          Haben Sie "Mitgift" von diesen Fragen aus entwickelt?

          Der Roman ist nicht von diesen Fragen aus entstanden, sondern über die Figuren. Die Liebesgeschichte zwischen Lukas und Aloe war mir von Anfang an sehr klar, und ich wusste auch, dass zwischen Aloe und ihrer Schwester Anita irgendwo in der Vergangenheit etwas ist, das bis in die Gegenwart der 90er Jahre, in der das Buch spielt, ausstrahlt.

          Wie hat sich dieses Geheimnis konkretisiert?

          Mir war klar: Es muss um ein Tabu gehen, um ein Familiengeheimnis, das aber auch eine körperliche Manifestation hat, das sich sozusagen im Konkreten niedergeschlagen hat. Und plötzlich, mitten im Schreiben, wusste ich, es hat etwas mit Sexualität zu tun, diese körperliche Anomalität von Anita. Dann habe ich angefangen zu recherchieren. Was ich fand, waren Bilder, aber keine Antwort auf die Frage, was es wirklich bedeutet, als Mensch mit Sexualorganen zwischen männlich und weiblich auf die Welt zu kommen. Die Medizin zeigt nur das Phänomen. Alles, was sie auslässt, was sie nicht versteht, ist der Punkt, an dem Literatur einsetzt.

          Es ist überraschend, wie viele Kinder mit nicht ganz eindeutig zuzuordnenden Geschlechtsmerkmalen geboren werden: zu kleiner Penis, zu große Vagina, irgendetwas dazwischen - eine erstaunliche Zahl, Dunkelziffer zwischen zwei und fünf Prozent. Dass man in den 60er und 70er Jahren wie wild operiert und alles tabuisiert hatte, damit hatte ich ja noch gerechnet. Aber es ist heute noch ganz genau so. Ich habe mit einer Chirurgin gesprochen auf der Charité, die arbeitet da seit 20 Jahren in der Neugeborenen-Abteilung. Und die macht nur das, nur diese Art von Operationen.

          Wie sind diese Recherchen in den Roman eingeflossen?

          Wenn man für einen Roman recherchiert, muss man eigentlich alles, was man gefunden hat, wieder vergessen. Im Endeffekt bleibt nur sehr wenig, was dann wirklich ins Gewebe des Romans eingeht. Eines zum Beispiel leuchtete mir auf einer gefühlsmäßigen oder irrationalen Ebene sofort ein: Ein Psychologe, der mit diesen Formen sexueller Abweichung zu tun hat, erzählte mir, dass die Kinder, mit denen er arbeitet, alle unheimlich gern mit Feuer spielen. Das ist dann auch für Anita, die Romanfigur, die mit dieser äußeren Vermännlichung auf die Welt gekommen ist, in den Text eingegangen. Es ist eine Eigenart von ihr geworden.

          Gibt es ein im engeren Sinne sprachliches Anliegen Ihres Romans?

          Ich wollte eine Sprache finden, um den Zustand der Magersucht auszudrücken, dieses besondere Körpergefühl. Ich wollte diese Krankheit auch über die Sprache, über ihre Rhythmik und Dynamik abbilden. Die Sätze magern ab, sie werden harsch und sehr streng mit sich selbst. Dann bricht Aloe zusammen, kommt ins Krankenhaus und wird dort einige Wochen therapiert. Das ist dann auch eine allmähliche Rückkehr zum Grundton des Romans, in dem es dann auch weitergeht. Dieser Grundton ist schwer zu beschreiben. Man muss es lesen.

          In der Familie von Aloe und Anita gibt es einen Zweig, der aus Schlesien kommt, und mir hat großen Spaß gemacht, auch ein paar schlesische Ausdrücke aufzunehmen, bei der Sprache der Großmutter. Sie sagt zum Beispiel einmal: "Pluder nicht so, Ingridchen". Das heißt: "Reg dich nicht so auf". Ich habe auch Wissenschaftssprache aufgenommen, über die Astrophysik, bin in verschiedene Jargons hineingegangen, etwas auch in die medizinische Sprache. Dann hat mich interessiert: Wie beschreibt man Fotografien und Kunstwerke? Anita ist Kunsthistorikerin, und mit der Kunst zieht sich ein ganzer Motivstrang durch den Roman.

          Zentral sind dabei die Arbeiten von Spencer Tunick. Er fotografiert große Massen nackter Menschen, die irgendwo einfach auf dem Boden liegen. Dabei entsteht ja auch ein Vexierbild zwischen Gleichheit und Gleichgültigkeit. Und diese Gleichgültigkeit - auch im Sinne von Gleichwertigkeit - ist etwas, das in Ihrem Roman in Frage gestellt wird.

          Wir sind in jedem unserer Lebensvollzüge auf andere Menschen angewiesen. Sie müssen das Ganze mit uns aufrecht erhalten, im Essen, in der Wärme, überall. Dabei verstehen wir uns aber alle als Individuen, und wir leben mit dieser Doppelbezüglichkeit. Das spiegelt sich sehr schön in den Bildern von Tunick. Er arbeitet immer mit der Masse Mensch, Menschen hundertfach, nebeneinander, nackt. Doch es ist ganz merkwürdig: Wenn man die Fotos länger anschaut, fängt man an, einzelne zu sehen. Man sieht immer doppelt, man sieht ihre Gleichförmigkeit und dass alle, die da liegen, Menschen sind und eben keine Kühe. Und man sieht eben auch ihre Einzigartigkeit.

          Welche Rolle spielt Bildende Kunst allgemein für Ihr Schreiben?

          Ich bin ein sehr farbbezogener und strukturbezogener Mensch. In meinem Elternhaus gab es nicht so viele Bücher, dafür aber mehr Anknüpfungspunkte an die Bildende Kunst. Mein Vater ist Architekt, und ich durfte immer eine Menge malen und zeichnen. Es war großartig, ich habe das geliebt.

          Und ich weiß noch, wie ich das erste Mal im Lenbachhaus war und Klee angeschaut habe, mit sieben oder acht: Das war ein richtiger Stoß, eine Traumwelt, ich war absolut hingerissen. Ich suche Bildende Kunst, um aufzunehmen, wie jemand anderes die Welt sieht. Und um zu versuchen, das, was in dem Bild da ist, auch wieder in Sprache zu übersetzen.

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