„Wir wollen Regeln und Gesetze ändern, nicht nur die Herzen und die Köpfe“, sagt die Aktivistin Alicia Gaza, 39. Bild: Damon Casarez/Redux/laif
BLM-Mitgründerin Alicia Garza : „Die Bewegung muss jedem gehören“
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Alicia Garza hat vor sieben Jahren die Protestbewegung „Black Lives Matter“ mitbegründet. Nun arbeitet sie daran, politische Veränderungen zu erreichen, von denen alle profitieren. Ein Gespräch über Identitätspolitik, alte Regeln und den Begriff Blackness.
Sie haben 2013, gemeinsam mit Patrisse Cullors und Opal Tometi, die „Black Lives Matter“-Bewegung ins Leben gerufen. Der Name der Bewegung ist mittlerweile auf der ganzen Welt bekannt, der ihrer Gründerinnen vergleichsweise wenig. Normalerweise wäre es sehr unfreundlich, ein Interview mit einer solchen Feststellung zu beginnen. Aber wenn ich Ihr Buch richtig gelesen habe, sind Sie ziemlich glücklich damit, dass der Name der Bewegung größer ist als Ihrer?
Absolut. Es geht nicht um uns. Wir schauen oft genug nur auf die Galionsfiguren. Das lenkt nur davon ab, wofür die Bewegung kämpft, es reduziert sie. Es ist unglaublich, dass „Black Lives Matter“ heute so ein bekannter Begriff ist. Es zeigt die Verbindung der schwarzen Communities quer durch die Diaspora. Und es zeigt auch, dass es einen großen Bedarf an einer solchen Bewegung gibt. Es zeigt, dass es überall Ungleichheiten gibt, die thematisiert werden müssen, dass es überall Rassismus gibt, der thematisiert werden muss.
„Black Lives Matter“ ist mittlerweile Mainstream geworden. Besteht da die Gefahr, dass die Bewegung nur noch ein Slogan ist und ihre konkreten politischen Forderungen vergessen werden?
Natürlich besteht die Gefahr, dass die Forderungen an Substanz verlieren, wenn man zu einer Marke wird. Das dürfen wir nicht erlauben. Gleichzeitig ist es wichtig, weil man natürlich Menschen jenseits aktivistischer Kreise erreichen muss, um etwas zu bewirken. Aber ich glaube, die Bewegung wird sich noch weiterentwickeln und ist noch lange nicht am Ende. Im Moment passieren in den Vereinigten Staaten viele Veränderungen, die „Black Lives Matter“ angestoßen hat. Das ist unsere zentrale Aufgabe: Regeln zu verändern. Die Regeln, die seit langer Zeit gegen unsere Communities gerichtet sind. Und einen neuen Weg einzuführen, wie wir zusammenleben können.
In Ihrem Buch betonen Sie, wie wichtig breite Koalitionen sind; aber auch, wie kompliziert manchmal die Abwägung zwischen dem Weg einer auf ein klares politisches Ziel fokussierten „Einheitsfront“ und einer breiten „Volksfront“ ist. Wenn nun weiße, privilegierte Bürgertöchter wie meine Tochter, die sicher nicht unter Rassismus leiden, in Berlin zu „Black Lives Matter“-Demonstrationen gehen – gibt es da Stimmen in der Bewegung, die sagen: Moment mal, das geht jetzt doch zu weit. Unsere Bewegung ist nicht ihre Bewegung.
Diese Bewegung muss jedem gehören. Das heißt nicht, dass sie egalitär ist. Aber der einzige Weg, Rassismus loszuwerden, ist, auch, Weiße dazu zu bringen, sich davon freizumachen. Es ist wichtig, dass Ihre Tochter Teil dieser Bewegung sein will, vor allem, wenn sie sich wirklich bemüht, sich vom Rassismus zu befreien. Wenn sie nur kommt, weil es gerade angesagt ist, ist das eine andere Sache. Aber ich finde es wichtig, dass Weiße sagen, dass sie ein Zeichen gegen Rassismus setzen. Ich treffe oft Leute, die sagen: „Ich finde toll, was du mit deiner Bewegung tust, viel Glück!“ So funktioniert das nicht. Wenn wir nur zu schwarzen Menschen oder über sie reden, ändert sich gar nichts. Schwarze Menschen haben die Regeln nicht geschrieben; schwarze Menschen haben die Politik nicht entworfen, die uns die Würde verwehrt, die wir verdienen. Es geht darum, dass Menschen aller races, Geschlechter und religiöser Überzeugungen zusammenkommen. Nicht nur, um zu protestieren, sondern um die Proteste in politische Veränderungen zu verwandeln. Das ist der Auftrag für unsere Generation. Und ich denke, dass wir vorwärtskommen. In den vergangenen Monaten haben wir ein exponentielles Wachstum der Bewegung gesehen, nicht nur in Zahlen, sondern auch, was die Bandbreite der Leute betrifft, die es unhaltbar finden, dass wir uns heute immer noch mit diesen Problemen herumschlagen müssen. Das sind alles alte Probleme, wir müssen uns endlich mit den neuen beschäftigen. Davon hängt der Erfolg der Bewegung ab.
Der englische Untertitel Ihres Buches lautet: „How We Come Together When We Fall Apart“. Die Kritiker werfen „Black Lives Matter“ und anderen identitätspolitischen Bemühungen oft vor, dass sie genau das Gegenteil tun: dass sie die Gesellschaft spalten, indem sie auf partikuläre Interessen bestehen. Sie verteidigen die Idee der Identitätspolitik. Warum?
Dieses Land – und tatsächlich die ganze Welt – wird seit sehr langer Zeit von weißer Identitätspolitik regiert. Und der Grund, warum sie das tun konnte, war, dass sie dabei im Wesentlichen unsichtbar operierte. Weiße Identitätspolitik wurde zum Standard. Wenn es nun die These gibt, dass nicht jede Identität weiß ist, flippen alle aus. Dann heißt es plötzlich, wir sollten nicht darüber reden, weil es uns spaltet. Das war aber immer der Fall. Wenn wir das nicht zum Thema eines internationalen Gesprächs machen, können wir nie hoffen, die Herausforderungen zu bewältigen, die sich uns heute stellen. Für manche von uns ist es eben nicht möglich, nicht über Identitäten zu sprechen, weil sie unsere Leben prägen. Auch wenn ich nicht darüber sprechen würde, dass ich schwarz bin, werde ich auf eine bestimmte Weise behandelt, weil ich schwarz bin. Ich werde mit bestimmten Regeln und politischen Bestimmungen konfrontiert, weil ich schwarz bin. Ich werde mit bestimmten Ungleichheiten konfrontiert, weil ich schwarz bin. Wir dürfen das nicht unter den Teppich kehren. Gerade weil wir das so lange getan haben, konnte sich das System halten. Der Identitätspolitik auszuweichen, dient nur der konservativen Bewegung.
Sie sehen also keinen Widerspruch zwischen dem Kampf um kulturelle Anerkennung und dem für soziale Gerechtigkeit?
Nein, natürlich nicht. Klasse und race sind überhaupt kein Widerspruch, im Gegenteil. Beide Kategorien wirken gemeinsam daran mit, einige Menschen nach vorne zu bringen und andere auszuschließen. Deshalb müssen wir genau untersuchen, was wir dagegen tun. Wir müssen zu Wissenschaftlern werden, die herausfinden, warum verschiedene Menschen verschieden behandelt werden. Welchem Zweck dient das, wessen Agenda nutzt es, und was verrät es uns darüber, wie Macht verteilt ist? Nur wenn wir ein viel besseres, ein wirklich wissenschaftliches Verständnis davon haben, wie Rassismus gegen Schwarze die Regeln prägt, die unser Land bestimmen, können wir diese beseitigen.
Konservative Kritiker werfen Black Lives Matter vor, die Bewegung wolle „das Gefüge Amerikas zerreißen“. Ist da nicht etwas dran, wenn man es nicht als Diffamierung versteht? Es geht Ihnen ja um radikale strukturelle Veränderungen.
Ich denke, dass wir uns alle darauf einigen können, dass wir nicht mehr so weitermachen können. Die einen nennen das Transformation, die anderen Zerfall. Wie auch immer Sie es nennen wollen, sind sich doch viele einig, dass die bisherige Lebensweise nicht mehr funktioniert, für die meisten Menschen in diesem Land nicht und auch nicht für die meisten Menschen auf der Welt. Das wird sowieso alles automatisch auseinanderfallen und aufhören, weiter so zu funktionieren, wie es das bisher tat. Deshalb brauchen wir sozusagen Sterbehilfe. Wenn wir verstanden haben, dass etwas nicht wiederbelebt werden kann, müssen wir uns überlegen, wie wir erlauben können, dass es stirbt. Und wir müssen uns überlegen, was wir stattdessen aufbauen. Meine große Hoffnung ist, dass wir viel mehr Zeit und Energie in die Frage investieren, was wir aufbauen. Ich glaube, diese Vision ist es auch, die die Leute dazu bringt, sich zu beteiligen. Ich will, dass wir die Herausforderung annehmen, neu zu denken, wie die Demokratie in diesem Land aussehen könnte und sollte.
Es gibt viele Vorstellungen über den Begriff der Blackness. Es geht ja nicht einfach um die Hautfarbe. Wie definieren Sie Blackness?
Blackness ist schwer zu definieren. Für jeden ist das anders. Ich würde sagen, es geht vor allem um geteilte Erfahrungen, die auf race basieren. Race ist eine konstruierte Kategorie. Und Blackness, würde ich sagen, ist die Widerstandsfähigkeit von Menschen, die aufgrund ihrer Hautfarbe markiert werden. Es beschreibt die Praktiken, die wir über viele Generationen entwickelt haben, angesichts solch tiefer Traumata eine Gemeinschaft zu sein. Ich würde es gerne dabei belassen. Ich möchte mich nicht auf die Diskussion einlassen, wer schwarz ist und wer nicht, das ist ein kolonialistisches Projekt. Aber mir ist wichtig, dass schwarze Communities kein Monolith sind. Das macht uns so lebendig. Überall wo es uns gibt, finden wir Wege, nicht nur uns anzupassen, sondern uns auch zu beteiligen. Unsere Communities haben zu einer Veränderung der Wahrnehmung beigetragen, was Menschen für möglich halten.
Sie haben sich 2016 aus dem operativen Bereich bei „Black Lives Matter“ zurückgezogen. Warum?
Ich habe mich aus der täglichen Arbeit zurückgezogen, um eine neue Organisation zu gründen. Ich begann, mich immer mehr für die Strategien politischer Macht zu interessieren, weil das eine große Lücke in meiner Community ist, die geschlossen werden muss. Das Black Futures Lab, meine neue Organisation, entstand als Reaktion auf die Wahl 2016 und die Art, wie wir damals als politischer Football benutzt wurden. Wir konnten damals die Kandidaten weder dazu bringen, über „Black Lives Matter“ zu reden, noch überhaupt über die Themen, die der schwarzen Community wichtig sind. Mit dem Black Futures Lab versuchen wir, die politische Macht der schwarzen Community zu stärken. Wir wollen dafür sorgen, dass unsere Communities gehört werden. Wir wollen Regeln und Gesetze ändern, nicht nur die Herzen und die Köpfe. Wir haben zum Beispiel die größte Studie über schwarze Menschen in Amerika seit 150 Jahren durchgeführt. Und wir haben daraus eine Gesetzgebungsagenda entwickelt, die Black Agenda 2020, die sehr klar ausführt, wie wir die Anliegen von „Black Lives Matter“ in die Parlamente bringen. Wir haben ein Institut gegründet, in dem schwarze Politiker lernen können, wie man Gesetze ändern kann, und wir entwerfen verschiedene Kampagnen, um diese Veränderungen zu erreichen. Wir haben mit „Black Lives Matter“ ein extremes Maß an kultureller Macht erreicht. Aber wir arbeiten noch daran, echte politische Macht aufzubauen. Dafür brauchen wir Institutionen, die das tun.
Sie sagten, die schwarze Community sei kein Monolith. Sie ist, wie Sie in Ihrem Buch schreiben, nicht einmal unbedingt besonders progressiv. Gibt es überhaupt einen schwarzen politischen Konsens? Was hat Ihre Studie herausgefunden?
Natürlich wissen wir, dass unsere Communities nicht alle gleich denken oder die gleichen Erfahrungen haben. Aber es gibt Gemeinsamkeiten. Mehr als 50 Prozent finden zum Beispiel, dass den Politikern schwarze Menschen egal sind, und sind der Ansicht, sie kümmerten sich nur um reiche und weiße Leute. Eine große Mehrheit der Befragten sagten, ihre größte Sorge sei, dass die Löhne zu gering sind, um eine Familie zu ernähren. Sehr viele sprachen sich für die Verantwortung von Unternehmen aus und sind für staatliche Regulierungen und Eingriffe. Das sagt sehr viel darüber aus, wie viel Schaden die konservative Bewegung seit über dreißig Jahren dem Land zugefügt hat, nicht nur den schwarzen Communities, sondern dem ganzen Land. Wenn wir also die Probleme angehen, die die schwarzen Communities betreffen, profitieren alle davon. Wenn wir dafür sorgen, dass Unternehmen keinen ungebührlichen Einfluss auf die Demokratie haben, ist das nicht nur gut für schwarze Menschen. Wenn wir für einen Mindestlohn sorgen, von dem Menschen mit Würde leben können, ist das nicht nur gut für schwarze Menschen. Aber Tatsache ist, dass die Ungleichheiten in den Vereinigten Staaten so groß sind, dass Schwarze einen viel weiteren Weg gehen müssen, um aufzuholen.
Was antworten Sie schwarzen Wählern und Wählerinnen, die Sie fragen, warum sie bei dieser Wahl überhaupt abstimmen sollen, wenn sie die Wahl zwischen zwei sehr alten, sehr weißen Männern haben?
Die kurze Antwort ist: um die Auswahl zu verändern. Nichts verändert sich, wenn wir keine neuen Wahlmöglichkeiten erzwingen. Der einzige Weg, das zu tun, ist, dass die Menge der WählerInnen so groß ist, dass sie nicht mehr ignoriert werden kann. Und von dort aus müssen wir dann dafür sorgen, dass nicht mehr nur alte weiße Typen in Machtpositionen sind.
Was macht Sie zuversichtlich, dass es 2024 eine bessere Auswahl gibt?
Dass sich gerade so viele Menschen mit so verschiedenen Hintergründen aktiv engagieren. Wenn Sie sagen, dass „Black Lives Matter“ auf der ganzen Welt ein Begriff ist, bekomme ich Gänsehaut. Es macht mir Hoffnung, dass wir die Gelegenheit haben, eine aktive Rolle dabei zu spielen, die Welt aufzubauen, die wir sehen wollen. Wir gehen nicht wieder schlafen.