Inklusionsdebatte : Eine unglaubliche Gleichmacherei
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Aufstieg einer Heilsidee: die „vollständige Inklusion“ ist bereit zur Ignoranz jedes empirischen Unterschieds Bild: dpa
Warum werden Wesensmerkmale wie Behinderung, Begabung oder sexuelle Identität wegdiskutiert? Das Neueste aus dem Paradiesgärtlein der Inklusion.
Die Debatte über Inklusion sei in eine „Schieflage“ geraten, erklärte kürzlich die Berliner Arbeitsmarktforscherin Jutta Allmendiger auf „Spiegel online“. Schief, so die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, sei die Wahrnehmung, dass Inklusion „praktisch nicht funktionieren“ könne. Schief sei, versteht man richtig, überhaupt die Kritik an einem gesellschaftspolitischen Projekt, das sich doch eigentlich von selbst verstehe: die Normalisierung der Vielfalt als politische Querschnittsaufgabe. Dabei geht es um die sukzessive Herstellung einer inklusiven Gesellschaft, weit über den Schul- und Bildungsbereich hinaus.
Insbesondere bei Inklusionsfeldern wie sexueller Identität oder Behinderung liegen die Nerven blank. Im Blick auf die Einwände, die gegen die umstandslose Übersetzung von sozialer Gerechtigkeit in den politischen Kampfbegriff der Gleichstellung vorgebracht werden, versteht Frau Allmendinger die Welt nicht mehr. Sie fragt: „Warum ist die Inklusion in Deutschland noch immer so umstritten?“ Noch immer? Immer mehr! Immer mehr zeigt sich der utopische, weltfremde Charakter einer Heilsidee, die über keinen positiven Begriff von Ungleichheit verfügt. Als ergäbe sich aus der Gleichheit vor dem Gesetz (oder vor Gott) die Notwendigkeit, jedweden empirischen Unterschied zu ignorieren.
Alles wird Zuschreibung
Nicht jeder kann alles. Und nicht jeder kann das, was er kann, genauso gut wie jemand anderer, der es besser kann. Die Pointe der Inklusionssemantik liegt aber darin, jeden Unterschied als Ungleichheit zu deuten und jede Ungleichheit als Ungerechtigkeit. So wird unter der regulativen Idee der „Vielfalt“ (Schule der Vielfalt, „diversity management“ in Unternehmen) ein egalitäres Anspruchsdenken installiert, das so weit geht, Unterschiede als solche möglichst gar nicht mehr namhaft zu machen. Geschlecht, Behinderung, Alter oder Intelligenz gehören dann gar nicht erwähnt, sie erscheinen als bloße Zuschreibungen im Auge des Betrachters.
Die Analyse kategorialer Unterschiede wird als Essentialismus geschmäht, dem ein naiver Wesensbegriff zugrunde liege. Die propagierte Dekategorisierung („alles ist Zuschreibung“) vollzieht sich aber zunehmend auf dem Rücken der Betroffenen. Frau Allmendinger beispielsweise macht unfreiwillig die diskriminierenden Folgen für die Behinderten sichtbar, ja, befördert sie selbst. So kritisiert die Arbeitsmarktforscherin, „dass viele Bundesländer Inklusion fördern wollen, ihr Förderschulsystem aber unangetastet lassen“. Sie fordert, „Förderschulen konsequent zu schließen“ – und lässt damit die Katze aus dem Sack.
Diskriminierung durch Ausblenden
Inwiefern? Die Antwort lautet: Wenn schwer und mehrfach Behinderte als solche nicht mehr bezeichnet werden dürfen, dann fallen sie über kurz oder lang auch als Träger eines besonderen Förderbedarfs aus. Dann kann man Sonder- schulen schließen, ohne zu wissen, wie diese ihrer speziellen Betreuung beraubten Kinder und Jugendlichen auf inklusiven Schulen zurechtkommen sollen.
Denn das sind Schulen, die – ohne klare Perspektiven für die finanzielle und personelle Ausstattung – derzeit in der Regel Provisorien nach dem Prinzip Daumendrücken darstellen. Vergleichsdaten zur Inklusion aus dem Ausland beziehen sich bei näherem Hinsehen auf andere Förderkriterien, werden aber hierzulande propagandistisch ausgeschlachtet.
Heute steht man vor dem Paradox, dass die begriffliche Gleichstellung der Unterschiede – ihr Unsichtbarwerden – recht eigentlich erst die lebensweltliche Diskriminierung schafft, die man doch verhindern will. Man kann im Interesse der Betroffenen nur davor warnen, die unterschiedlichen Bedürfnisse so weit zu nivellieren, dass sie am Ende nicht mehr geltend gemacht werden können.
Aberwitzige Umfragen
Wer im Zuge einer überdrehten Gender-Ideologie das Muttersein für ein Zuschreibungsmerkmal hält, das der berufstätigen Frau nur „äußerlich“ ist (wie immer man hierzu den Gegenbegriff fassen möchte), der entlastet den Arbeitgeber im Zweifel von dem Druck, auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie spezifische, über den rechtlichen Rahmen hinausgehende Rücksichten nehmen zu sollen.
Wer umgekehrt Gender-Fragen derart essentialisiert, dass eine allgegenwärtige sexuelle Diskriminierung angenommen wird, schadet seinem Anliegen erkennbar mehr, als ihm zu nutzen – wie in der Online-Umfrage, die das baden-württembergische Ministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Senioren unlängst zur sexuellen Diskriminierung veranstaltet hat. Dabei wurden etwa trans- oder intersexuell orientierte Menschen gefragt, ob sie „einmal(!) oder öfter in den letzten fünf(!) Jahren“ eine Diskriminierungserfahrung gemacht haben.