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Betrunkene Theatergeher : Prosit!

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Wer ist noch nüchtern nach der Theaterpause? Szene aus dem Wiener Theater in der Josefstadt Bild: Picture Alliance

In Großbritannien erregt eine Umfrage Aufsehen: Jeder zweite Servicemitarbeiter habe schlechte Erfahrungen mit alkoholisierten Zuschauern gemacht. Die Berichte reichen von Grölen bis Grapschen.

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          Im Theater sieht man vermehrt Betrunkene. Das Rollenfach ist beliebt: bei Dramatikern nahezu jeder Epoche, bei der stets einfallsreichen Regie und auch bei den Darstellern selber, die durch ein Torkeln hier oder ein Aufstoßen da in jedem Fall ein paar Lacher im Saal sicher haben. Neben Kindern, Tieren und Betrunkenen sehen alle anderen auf der Bühne blass aus – so lautet eine alte Regel des schauspielenden Gewerbes. Dass auch hinter den Kulissen, vorzugsweise in den Kantinen, kräftig gesoffen wird, ist ein offenes Geheimnis. Die Rate der Alkoholsüchtigen unter Schauspielerinnen und Schauspielern ist jedenfalls überdurchschnittlich hoch, obwohl man hört, dass jüngere Generationen sich dem notorischen Absacker inzwischen immer öfter entziehen.

          Wie einer einen Betrunkenen gibt, daran kann man wiederum durchaus die Qualität seiner Schauspielkunst messen. Denn allzu oft droht hier die Darstellung in die oberflächliche Karikatur abzugleiten. Dass ein Betrunkener automatisch jede Kon­trolle über sich verlieren, dass er lallen und hinfallen muss, ist eben nur die eine, einigermaßen konventionelle Möglichkeit. Andere, nuancenreichere Darstellungsformen sind durchaus denkbar: Zum Beispiel die peinliche Achtsamkeit desjenigen, der seine Schwäche genau kennt und sie um jeden Preis vor anderen verbergen will. Oder der stille, immer trauriger werdende Gestus eines Pegeltrinkers, der nur einmal, kurz vorm Wegdämmern, jäh aufschreit. Oder. Oder. Oder.

          Getreten, beschimpft, beleidigt

          Aus Großbritannien erreicht uns in diesen Tagen eine unerwartete Erweiterung des Rollenfachs: der betrunkene Zuschauer. Bei einer im Auftrag der Theatergewerkschaft BECTU ausgeführten Befragung gab knapp die Hälfte aller – notorisch unterbezahlten – Service-Beschäftigten an, wegen schlechter Behandlung durch das Publikum mit dem Gedanken zu spielen, ihre Arbeitsstätte zu verlassen. Neben respektloser Rede und gewalttätigen Übergriffen ein offenbar besonders häufig auftretendes Phänomen: betrunkene Zuschauerinnen und Zuschauer, die während der Vorstellung plötzlich losgrölen, einander die Köpfe einschlagen, in Notausgänge urinieren oder das Servicepersonal belästigen. Stattliche neunzig Prozent der mehr als 1500 Befragten gaben an, dass sie schlechte Erfahrungen mit Zuschauern gemacht hätten, die ihre Theaterhäuser bereits in stark alkoholisiertem Zustand betreten hätten. Insbesondere Junggesellinnenabschiede eskalierten regelmäßig.

          Eine Platzanweiserin berichtet davon, dass sie von einer betrunkenen Zuschauerin getreten, beschimpft und heftig gewürgt worden sei. Eine andere wurde von einem besoffenen Parkettgast gegen ihren Willen geküsst und sexuell belästigt. BECTU fordert die britische Theaterindustrie angesichts solcher Umfrageergebnisse nun zu einer radikalen Durchsetzung eines angemessenen Verhaltenskodexes auf. Vorgeschlagen werden etwa warnende Durchsagen vor Vorstellungsbeginn oder der Abdruck von Benimmregeln auf Eintrittskarten. Dass es so weit kommen konnte, denkt bei sich der kulturkritische Theatergänger, kommt auch davon, dass man zuletzt allzu leichtfertig die sogenannte vierte Wand einreißen wollte. Dann meint nämlich das Parkett am Ende wirklich, dass es die bessere Bühne sei.

          Simon Strauß
          Redakteur im Feuilleton.

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