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Holocaust-Forschung : Götz Alys neuer Irrweg

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Götz Aly

Götz Aly Bild: Roger Hagmann

Erklärt deutscher Neid auf jüdische Aufsteiger den Holocaust? Aus der internationalen Mobilitätsforschung hat der schreibfreudige Historiker Götz Aly keine Kenntnisse abgerufen.

          4 Min.

          Manche Bücher kann man als Akt der Selbstdisziplinierung verstehen. Auf den ersten Blick gehört dazu das neue Buch von Götz Aly: anfangs der Achtundsechziger-Radikalinski in Berlin, dann schreibfreudiger Historiker, allmählich vorzüglicher Kenner des Holocausts. Seine Erklärung der Massenvernichtung schwankte freilich hin und her. Geraume Zeit hing er der vulgärmarxistischen Kritik am Kapitalismus als Pauschalursache des Judenmords an. Später konzentrierte er sich auf die Folgen der Eugenik und der deutschen Umsiedlungspolitik, die Hunderttausende von Juden zusammentrieb und damit die Vernichtungspolitik begünstigte. Oder er betonte die gedankliche Vorarbeit perfider Schreibtischtäter - der Demographen, Historiker, Eugeniker, Ministerialbeamten -, die den Holocaust planerisch vorwegnahmen.

          Von all diesen dogmatischen Ansätzen ist in dem neuen Buch „Warum die Deutschen? Warum die Juden?“ nicht mehr die Rede. Dieser Längsschnittstudie zur deutschen Geschichte zwischen 1800 und 1933, deren roten Faden der Antisemitismus bildet, liegt vielmehr ein sozialpsychologisches Erklärungsmodell zugrunde. Es ist der Sozialneid, mit dem angeblich zahllose Deutsche auf den verblüffend erfolgreichen Aufstieg der Juden reagierten - ein Neid, der sich hin zum dumpfen Hass steigerte, bis er schließlich eine verhängnisvolle Fusion mit dem modernen Rassenantisemitismus einging.

          Die These vom deutschen Sozialneid

          Zunächst gelingt Aly ein durchaus fairer Rückblick auf die, aufs Ganze gesehen, erfolgreiche Judenemanzipation in den deutschen Staaten des neunzehnten Jahrhunderts. Dazu gehörte auch ein außerordentlich schneller Aufstieg in das deutsche Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum, so dass zahlreiche jüdische Beobachter, Intellektuelle zumal, von einer gelungenen sozialkulturellen Symbiose sprachen, die anderswo so nicht erreicht wurde. Kein Wunder mithin, dass Abertausende von Juden aus dem polnischen Teilungsgebiet Russlands oder als Reaktion auf die blutigen Pogrome des späten Zarenreichs ins gelobte Land im Westen auswanderten.

          Die Traditionen der jüdischen Schrift- und Lesekultur haben in Deutschland den Weg in das höhere Bildungssystem fraglos gefördert. Jüdische Rechtsanwälte, Ärzte, Hochschullehrer stellten zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts einen erstaunlich hohen Anteil unter den Akademikern. Und ebendiese beruflichen Karriereerfolge schürten, so Alys These, einen ebenso gehässigen Neid wie der Blick auf die reichen jüdischen Bank- und Handelsgeschäfte.

          Verzicht auf jeden Vergleich

          Der Autor versagt sich in seinem Buch jede vergleichende Perspektive. Aber war dieser deutsche Sozialneid wirklich ausgeprägter als im Frankreich der Dreyfus-Affäre, im Russland blutiger Pogrome, im Österreich eines giftigen Antisemitismus? Georg Mosse, Sprössling einer berühmten jüdischen Berliner Unternehmerfamilie und nach der Emigration bekannter Historiker in den Vereinigten Staaten, vertrat die Behauptung: Wenn vor 1914 die Möglichkeit eines antijüdischen Massenmords überhaupt erörtert worden wäre, hätte jeder Kenner an das Frankreich der Dreyfus-Affäre, allenfalls an die Untaten der Kosaken gedacht.

          Die Grundlage des fatalen Sozialneids, glaubt Aly, sei der allzu gemächliche Aufstieg der Deutschen gewesen, wie sie selbst im Vergleich mit ihrer jüdischen Konkurrenz, zusehends hasserfüllter, konstatiert hätten. Diesem Urteil liegt ein gründliches Missverständnis zugrunde, denn nicht nur war um 1850 die Alphabetisierung der Bevölkerung erreicht, sondern Gymnasien und Universitäten nahmen zusehends Angehörige der bürgerlichen Mittelklassen, keineswegs nur den bildungsbürgerlichen Nachwuchs, auf. Im internationalen Vergleich war das deutsche Bildungssystem offener als das französische, erst recht das englische und das vermeintlich egalitäre amerikanische.

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