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Hochstapler und Autisten : Wir sind alle Felix Krull

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Ein Rollenmodell? Sofia Helin als Kommissarin Saga Noren in der skandinavischen Fernsehserie „Die Brücke“ Bild: action press

In Zeiten sozialer Netzwerke ist uns Hochstapelei zur zweiten Natur geworden. Nur ein neuer Autismus kann uns retten. Unsere Autorin hat Saga Noren aus der Serie „Die Brücke“ vor Augen.

          7 Min.

          Die interessantesten Abenteuergeschichten waren bisher immer die, in denen jemand aufgrund von Charme, Schönheit und krimineller Energien mehr erreicht als ihm zusteht. Im Fall von Felix Krull ist das der Aufstieg in eine bessere, gesellschaftliche Schicht. Thomas Mann hat Krulls fiktive Biografie nie vollendet. Es geht um einen jungen Hochstapler und vielleicht auch um Manns Einsicht, dass ein unaufrichtiges Leben mehr Wert gewesen sein könnte als sein eigenes. Felix Krull setzt seine Intelligenz nicht zur Selbstoptimierung ein, er verwendet seine Kraft nicht darauf, der Gesellschaft zu nutzen, sondern lebt von der Gunst naiver, ihm verfallener Mitmenschen.

          Er ist ein Charismatiker, der die Leute gleichzeitig verarscht und begeistert. Aus jeder zwischenmenschlichen Begegnung zieht er durch geschickte Halbwahrheiten einen persönlichen Vorteil; gleichzeitig lieben die Leute ihn für die aus seinem Egoismus resultierende Anpassungsfähigkeit, weil er jederzeit zu dem werden kann, was andere in ihm sehen wollen.

          Egal, ob er gerade vom Verlobten seiner Geliebten erschossen werden oder ins Gefängnis gesteckt werden soll, weder sein Publikum noch er selbst müssen Angst haben, dass ihn sein Verhalten irgendwann zu teuer zu stehen kommen könnte. Man vertraut auf seine Fähigkeiten: Manipulation, Verführung, ungeheure Smartheit. Und man vertraut auf die generelle Milde seines Umfelds, das ihm als Wertschätzung seiner Intelligenz immer eine letzte Chance lässt.

          Der Soziologe Norbert Elias hat Ende der dreißiger Jahre versucht, ein Parameter für den Wandel der Sozialstrukturen Westeuropas zu erstellen. Er ging davon aus, dass man den Unterschied zwischen Barbarei und Zivilisation davon abhängig machen könne, wie viel Zeit zwischen einem strafbaren Vergehen und dem Urteil liegt, das über den Täter verhängt wird. Je länger das dauert, desto fortschrittlicher ist die Bevölkerung, zu der ein Täter gehört – und genau diese Vergesellschaftung ist Felix Krulls Fluchtfenster aus jeder Misere. Für seinen Charme wird er mit Chancen bezahlt, und die Betrogenen nehmen das in Würde hin.

          Das wird interessant, wenn man bedenkt, dass darin ein extremer Kontrast zu unserer Gegenwart steckt; in der es mehr und mehr um radikale Enthüllungen und Urteilssprüche geht, die Konkurrenten innerhalb kürzester Zeit für immer ausschalten können. Ein einziger Fehler kann Karrieren ruinieren, ein missverständlicher Tweet dein ganzes Leben.

          Die Rückkehr des Prangers

          Der Journalist Jon Ronson hat ein Buch über diesen reaktionären Mechanismus verfasst, „So You’ve Been Publicly Shamed“, in dem es um etwas geht, das man als „Selbstjustiz im Bürgerwehr-Stil“ übersetzen könnte. Ronson beginnt seine Abhandlung mit einer Geschichte aus seinem eigenen Leben. Drei Internetforscher erstellen einen als Sozialexperiment getarnten Twitteraccount unter Ronsons Namen und fangen an, zwanzig Mal am Tag obskure Statements mit dem hashtag #foodie zu veröffentlichen, meistens über Wasabidumplings, manchmal auch über Schwänze.

          Ronson bekommt Angst, dass seine Freunde den Account tatsächlich für seinen eigenen halten könnten – er konfrontiert die Männer vor laufender Kamera und lädt das Video auf Youtube hoch, woraufhin die Kommentatoren prompt einen überbordernden Shitstorm gegen die vermeintlichen Betrüger lostreten. „Gas the cunts. Especially middle cunt. And especially left-side bald cunt. And especially quiet cunt. Then piss on their corpses.“

          Zuerst hält Ronson das für soziale Gerechtigkeit, dann fängt er an, den Verlauf der Internetwut zu analysieren. Er besucht in Ungnade gefallene Opfer von Shitstorm-Selbstläufern, Justine Sacco zum Beispiel, die wegen eines zu radikal formulierten Aids-Witzes auf Twitter innerhalb von elf Stunden ihren Job, ihre Glaubwürdigkeit und die Gunst ihrer Familie verloren hat.

          Und er wirft die Frage auf, was ein Comeback der öffentlichen Anprangerung für unsere Kultur bedeutet, wenn sie absolut jeden treffen kann. Die stille Mehrheit bekommt im Internet eine Stimme. Doch diese Stimme sucht bloß selbstbestätigende Fehler im Verhalten von Einzelpersonen, sie will die Grenzen der Normalität neu definieren, indem sie das Leben derer zerstört, die mal kurzzeitig von ihr abgewichen sind.

          Was hat das nun mit Felix Krull zu tun? Ziemlich viel, wenn man bedenkt, das Felix Krull keine Ausnahmeerscheinung und kein Held mehr ist, sondern der Standard. Wir alle sind er, manche mehr, manche weniger erfolgreich, doch die Versuchsanordnung in unserem Streben nach Selbstverwirklichung ist immer dieselbe. Hochstapelei ist eine Anforderung an den modernen Menschen. Wir leben in einer Welt der Hochstapler, wir alle müssen zwangsläufig zu Hochstaplern werden, um voran zu kommen.

          In jedem Frauenmagazin steht, dass man, um das zu werden, was man sein will, erstmal so tun muss, als wäre man es schon. Im Smalltalk zu brillieren, also seine Außenwirkung gut genug im Griff zu haben, um sein Gegenüber hinter der Fassade eine authentische und weltgewandtes Persönlichkeit vermuten zu lassen, ist wichtiger, als tatsächlich irgendeine Persönlichkeit zu entwickeln.

          Die Sehnsucht nach dem Zweckfreien

          Fotos werden nicht einer abgedrifteten Stilisierung wegen bearbeitet, sondern um sie durch die Beseitigung von Störfaktoren natürlicher aussehen zu lassen. Authentizität ist der größte Fake überhaupt, die Herstellung von Glaubwürdigkeit die schwierigste schauspielerische Leistung, der Satz „sei einfach du selbst“ der mörderische Leitfaden einer neuen Weltordnung, und die Religion ist nicht der Wissenschaft gewichen, sondern dem Glauben an sich selbst und daran, bis aufs Äußerste etwas anderes tun zu können, als sich Gott oder höheren Gewalten hinzugeben – so was Ähnliches hat der Theologe William James schon Anfang des letzten Jahrhunderts formuliert. Wir sind Einzelkämpfer.

          Angepasst in allen Lebenslagen: Horst Buchholz als Titelheld in der Verfilmung von Thomas Manns Roman „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“  aus dem Jahr 1957
          Angepasst in allen Lebenslagen: Horst Buchholz als Titelheld in der Verfilmung von Thomas Manns Roman „Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ aus dem Jahr 1957 : Bild: INTERFOTO

          Sensibilisiert für unsere Mechanismen der Hochstapelei, tun wir alles, um andere potentielle Hochstapler zu entlarven. Macht ein Konkurrent nur den kleinsten Fehler in der Selbstverschleierung, ist das ein Grund, ihn zum Verbrecher zu degradieren und für einen gewissen Zeitraum seiner Glaubwürdigkeit zu berauben. Intimbeziehungen und Familienbande werden real unter die Kapitalbewegung subsumiert, sie verlieren ihre Grundlagen. Damit ist jeder ein Konkurrent. Und jedes Handeln muss sich irgendwie rechnen.

          Gleichzeitig sehnen wir uns mehr denn je nach allem Zweckfreien, das sich nicht rechnet und nur um seiner selbst willen existiert. Wir wollen um unserer selbst willen gemocht werden und nicht, weil wir viel Geld haben oder große Brüste, wir wollen bedingungslose Liebe und sportliche und geistige Höchstleistungen erzielen, die absolut keinem kapitalistischem Kalkül unterworfen sind. Wir wollen grenzenlosen Luxus, Verschwendung, den Rausch, weil wir Instrumentalisierung hassen. Und trotzdem beruhen unsere obligatorischen Erfolgsgeschichten darauf, dass alles und jeder instrumentalisiert wird.

          Wenn Felix Krull kein Held mehr ist, sondern zumindest unbewusst dem Richtmaß einer strebsamen Persönlichkeit entspricht, braucht man als neuen Helden den Gegenentwurf zu seiner Existenz: Menschen, die sich aufgrund von pathologischer Selbstvergessenheit einer Sache verschreiben, ohne dass es dabei auch nur ansatzweise um ihr persönliches Fortkommen geht.

          Isolierte Wissenschaftler, talentierte Sänger, die aus Angst vor der Öffentlichkeit keinen Plattenvertrag unterschreiben, oder sechsjährige Inselbegabte, die zwar kaum kommunizieren können, aber dafür gut rechnen oder fotorealistisch Bilder vom Regenwald abzeichnen. Das Idealbild eines aufrichtigen, der Gesellschaft nützlichen Menschen ist nur noch durch einen gewissen Grad an krankhafter Abweichung zu erreichen.

          Der Zustand der Kommissarin

          Bei dieser neuen, glorifizierten Form von Autismus handelt es sich nicht um unberechenbare Asperger-Kids, die schon im Vorschulalter masturbierend am Kronleuchter hängen. Es geht um zurückhaltende Außenseiter, die nicht lügen können und ihre Fähigkeiten wegen irgendeines irrationalen Pflichtbewusstseins in den Dienst der Allgemeinheit stellen. Sie sind hochbegabt, sich selbst egal und deshalb unsere letzte Rettung.

          Ein Paradebeispiel dafür ist Saga Noren. Sie ist die leitende Ermittlerin in der skandinavischen, unfassbar guten Erfolgskrimiserie „Die Brücke“, in der es um die Zusammenarbeit zwischen dänischer und schwedischer Polizei im Kampf gegen global-politischen Terrorismus geht. In Staffel eins, 2011 erstmals ausgestrahlt, wird in der Mitte der Örseundbrücke, genau auf der Grenze zwischen beiden Ländern, eine in zwei Teile geschnittene Leiche gefunden.

          Es folgt eine akribisch durchgeplante Mordserie in fünf Etappen, die in der öffentlichen Wahrnehmung auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam machen soll und sich am Ende doch nur als persönliche Racheaktion eines Psychopathen heraus stellt.

          In Staffel zwei wird die Brücke von einem Frachter gerammt, auf dem fünf mit Lungenpest infizierte Jugendliche gefunden werden. Es folgen willkürliche Vergiftungen und Anschläge, getarnt als Aktionen einer Umweltschutzorganisation – und am Ende doch wieder nur das Selbstbehauptungstool eines verkorksten Geisteskranken.

          Es geht um den Kampf zwischen Gut und Böse. Und das Böse wird in beiden Staffeln von einer verrückt gewordenen Einzelperson verkörpert, deren durchaus realistisches Ziel die Ausrottung der Menschheit ist. Man muss nur halbwegs intelligent sein und berechnet haben, dass das Leid, das einem die Welt angetan hat, auf zwanzigtausend tote Zivilisten hinauslaufen soll. Ob Hackerangriffe, die das komplette Stromnetz Europas lahmlegen können, oder Bio-Waffen – plötzlich kann ein Einzelner der kompletten Weltbevölkerung große Schwierigkeiten bereiten. Das ist beunruhigend.

          Und das Gute, das uns rettet, muss ein neuer Persönlichkeitstypus sein, der aufgrund einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung anders funktioniert als der Rest der Menschheit: Saga Noren, die autistische Kommissarin. Sie ist direkt, völlig unparteiisch und unmanipulativ, hat keine Ahnung von Sekundärtugenden und eine geistig verwirrte Klarheit vorzuweisen, die sie auf die abwegigsten Lösungsansätze kommen lässt – ihr dänischer Kollege Martin bildet das perfekte Gegenstück zu ihrer sozialen Unbeholfenheit und komplettiert damit etwas, das ich „die Revolution der Geschlechter im Film“ nennen würde: Während der Mann moralisch betrübt im Hintergrund steht und sich von Sorgen zerfressen lässt, hat die Frau den schnellen Vintage-Porsche, Schnupftabak, braune Lederhosen und ein Durchsetzungsvermögen, das sie zum Superhelden macht.

          Die Diagnose der Psychologen

          Sie ist unmöglich zu ihren Mitmenschen, behandelt sechsjährige Entführungsopfer wie erwachsene Verbrecher, kann nicht lachen, versteht keine Ironie; anstatt mit ihrem temporären Boyfriend zu kuscheln, liest sie Beziehungsratgeber, und als die Beziehung scheitert, erklärt sie ihrem Chef auf die Frage, wie sie sich fühle, dass sie enttäuscht sei, weil sie „viel Zeit investiert“ und sich ein „besseres Ergebnis erhofft“ habe.

          Die Autoren der Serie haben sich nie auf eine konkrete Diagnose der Figur festnageln lassen, das Publikum einigt sich auf „Asperger“, britische Psychologen ordnen Sagas Geisteszustand zwar als selten, aber trotzdem irgendwo auf der Skala der sogenannten „Autismus-Spektrum-Störung“ ein.

          Die Schauspielerin Sofia Helin erzählt dem „Guardian“, sie habe Angst gehabt, dass die Rolle den Zuschauern zu unsympathisch sein und sie schlichtweg nerven könnte – das Gegenteil ist eingetreten. Man wird süchtig nach ihrer Entrücktheit und ihrem viel zu niedrigen EQ. Denn ihr mangelnder Ehrgeiz, sich als Individuum zu behaupten, scheint das Einzige auf der Welt zu sein, auf das man sich noch verlassen kann.

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