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Hitlers Ermächtigungsgesetz : Die große Vollmacht

  • -Aktualisiert am

Zwei Tage vor der Abstimmung macht Adolf Hitler einen Diener vor Reichspräsident Hindenburg. Es ist der 21. März 1933, der „Tag von Potsdam“ Bild: Bundesarchiv

Am 23. März 1933 gelingt es Hitler, im Reichstag eine Mehrheit für sein Ermächtigungsgesetz zu bekommen. Dieses Rechtsinstrument hat er weder erfunden, noch hat es zuvor in seiner wechselvollen Geschichte nur Schlechtes bewirkt.

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          Es gibt ein Mittel, um die Ferienkasse im Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis mit einer zeithistorischen Wette aufzubessern. Man frage, wie viele Ermächtigungsgesetze es in der Geschichte der Weimarer Republik gegeben hab? Falls überhaupt noch rudimentäre historische Kenntnisse beim Wettpartner vorhanden sind, wird die Antwort meistens lauten: eines. Geben Sie sich jetzt verwirrt. Und sagen dann, Sie glaubten, es wären doch zwei, drei - nein, sagen Sie schließlich: Es sind doch sechs - gewesen. Der andere wird Sie für komplett verrückt halten. Wetten Sie sofort um einen kleinen Betrag - das ist unverdächtig -, und Sie haben, falls Ihr Gegenüber einschlägt, schon gewonnen.

          Ermächtigungsgesetze: heute also Vorlage für solch eine kleine Wette, damals aber ein Mittel, um einen Staat wie Weimar zu zerstören. Oder aber zu retten. Und zwar mit den gleichen Instrumenten: Ermächtigungsgesetzen. Denn tatsächlich war ja beides der Fall gewesen. Und jene aus dem bürgerlichen Lager, die 1933 Hitler und seinen Paladinen zur verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit verhalfen, wussten noch, was zehn Jahre vorher geschehen war. Sie vertrauten jener Erfahrung, die heute gänzlich vergessen ist.

          Ermächtigungsgesetze sind Freibriefe für die Exekutive. Die Legislative dankt ab, macht Pause, nimmt sich vollständig zurück. Die Gewaltenteilung ist aufgehoben. Alle Gewalt geht nur noch von einer Instanz aus - von der Regierung. Ermächtigungsgesetze sind deshalb höchst gefährlich, was alle Beteiligten schon vor ihrer Verabschiedung wissen.

          In Rom war der Begriff Diktator positiv besetzt

          Ermächtigungsgesetze dürfen deshalb nur angewendet werden, wenn die eine, die seltene Stunde, die Stunde des Notstands schlägt und zugleich die parlamentarischen Mechanismen noch irgendwie funktionieren, das Parlament überhaupt zusammentreten kann. Ist das nicht der Fall, schlägt ohnehin immer die Stunde der Exekutive, wie der Innenminister Gerhard Schröder Anfang der sechziger Jahre in der erbitterten, bisweilen gar hysterischen Debatte über die Notstandsgesetze ebenso kühl wie richtig anmerkte. In diesem Fall von Krieg und Chaos ist alles zurückgeworfen auf die Restbestände staatlicher Macht, die dann noch vorhanden sind.

          Ermächtigungsgesetze sind alt. Schon die Antike kennt sie. In der römischen Republik, also in der Zeit vor dem ersten Kaiser, dem Imperator Augustus, und vor Christus - die beide diese Rechtsfigur nicht benötigten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen -, wurde in ausgemacht kritischen Situationen vom Senat ein Diktator ernannt und, befristet auf sechs Monate, mit der ganzen, ungeteilten staatlichen „potestas“ ausgestattet, etwa, um einen überraschend ausgebrochenen Krieg zu führen, den in Italien einfallenden Invasor Hannibal mit seinen Elefanten zu vertreiben oder inneren Aufruhr niederzuschlagen - die sakralen Ernennungsgründe, etwa das Einschlagen des heiligen Nagels am Jupitertempel, können hier außer Betracht bleiben.

          In Rom jedenfalls war dieser Diktator - der Begriff ist damals positiv besetzt, ganz anders als bei uns heute - mit seinen unbeschränkten Vollmachten für eine klar bemessene, bisweilen verlängerte Frist wirklich eine Art Gott, war etwa von jeglicher Rechtsverfolgung ausgenommen, konnte herrschen und entscheiden über Leben und Tod.

          Der Kriegsbeginn machte es möglich

          Somit sind schon die wesentlichen Stichworte genannt: „Diktator“, „unbeschränkte Vollmacht“, „Herrscher über Leben und Tod“, „von jeder Rechtsverfolgung ausgenommen“. Genau das ist der Kern des Ermächtigungsgesetzes vom 23. März 1933. Das erste Ermächtigungsgesetz brachte im zwanzigsten Jahrhundert die Regierung Kaiser Wilhelms II. vor ein Parlament. Es wurde am 4. August 1914 vom Reichstag verabschiedet und trug den Titel „Gesetz über die Ermächtigung von Reichsrat und Reichsregierung zu wirtschaftlichen Maßnahmen im Falle kriegerischer Ereignisse“. Das klingt harmlos, war aber weitreichend. Denn es war der Präzedenzfall, die Mutter aller deutschen Ermächtigungsgesetze.

          In die deutsche Verfassungsgeschichte wird hier im August 1914 ein gänzlich neues Prinzip eingeführt. Das neue Prinzip hieß kurz und knapp: legaler Verfassungsbruch mit Billigung, mit Einverständnis aller beteiligten Verfassungsorgane. Und zugleich: freiwillige Selbstbeschränkung des ohnehin nicht sonderlich starken Reichstages, denn eine parlamentarische Monarchie war dieses Kaiserreich ja noch nicht, lediglich eine konstitutionelle. Hier fand nun quasi eine Verfassungsänderung ohne Änderung der Verfassung statt. Das war damals völlig neu. Der Kriegsbeginn machte es möglich.

          Auf der Basis dieses Freibriefs traf die Reichsregierung eine ganze Reihe von Maßnahmen. Die wichtigste war die Aufhebung der Golddeckung für die Reichsmark, war die Genehmigung zum Gelddrucken zur Kriegsfinanzierung. Sowohl verfassungsrechtlich wie politisch führt eine direkte Linie von diesem Gesetz zu den Ermächtigungsgesetzen 1923 und zu Hitler.

          Stabilisierung durch Stresemanns Ermächtigungsgesetz

          Ja: 1923. Das ist die wichtige, heute vergessene Zwischenstation. Die Aufhebung des Goldstandards von 1914 und der verlorene Krieg führten 1922/23 zur für Deutschland bis in die Gegenwart traumatischen Hyperinflation und zusammen mit dem Ruhr-Einmarsch der Franzosen, putschenden Separatisten im Rheinland, rot-roten, sich militarisierenden Regierungen in Sachsen und Thüringen, meuternden bayerischen Reichswehrtruppen und einem vom Marsch auf Berlin schwadronierenden, im Bürgerbräukeller in die Decke schießenden Hitler zur bis dahin schwersten Krise der jungen, ungeliebten Weimarer Republik. Dagegen befindet sich das heutige Griechenland noch in den Sommerferien.

          Millionen verarmen rasch und brutal - und werden politisch aufgeladen. Sie werden anfällig und aufnahmebereit für die Parolen des Ressentiments gegen die Reichen, darunter viele Juden, aber auch die verheißungsvollen Zukunftsvisionen Hitlers, besonders, nachdem bald noch ein zweiter Schlag, die Weltwirtschaftskrise in Verbindung mit Brünings die Krise weiter verschärfender Finanzpolitik, über sie hereinbrechen sollte.

          In diesem Herbst 1923 ist für wenige Monate die wohl größte politische Potenz der Weimarer Zeit Reichskanzler: Gustav Stresemann. Seine kleine liberale Partei ist zerstritten und unbeliebt - aber er, oder besser: die schwere, epochale Staatskrise fügt die erste große Koalition der deutschen Parlamentsgeschichte zusammen. Die Sozialdemokraten, von Reichspräsident Ebert gedrängt, machen mit für einige, allerdings entscheidende Wochen und Monate. Eines der wichtigsten Mittel zur Stabilisierung der verteufelt schwierigen Situation: das „Stresemannsche Ermächtigungsgesetz“ vom Oktober 1923. Ihm wird wenig später im Dezember, weil Anfang November die SPD die Koalition schon wieder verlassen hatte, ein zweites, gleichfalls auf knapp sechs Monate befristetes Ermächtigungsgesetz folgen, das von den Sozialdemokraten toleriert, also mitgetragen wird.

          Hitler erscheint als das kleinere Übel

          Bald danach allerdings haben sie Stresemann mit einem Misstrauensantrag gestürzt, weil er in der Krise mehr als acht Stunden arbeiten lassen wollte und gegen die rot-roten Regierungen, nicht aber gegen Bayern Reichswehrtruppen in Marsch gesetzt hatte. Die Nachfolge übernimmt der Zentrumspolitiker Wilhelm Marx. Mit den beiden Ermächtigungsgesetzen jedoch wurde die Republik gerettet. Auf ihrer Basis wurde die erste Währungsreform in Deutschland vollzogen, wurde mit der Roggen- oder Rentenmark eine neue Währung eingeführt - sechs Währungen sieht Deutschland insgesamt im zwanzigsten Jahrhundert.

          Auf Basis dieser Ermächtigungsgesetze wird zugleich zur Niederschlagung des inneren Aufruhrs von rechts und links ein Diktator installiert. Dieser Diktator hieß natürlich nicht Hitler. Er trug allerdings auch Uniform, war ein General mit Monokel, hieß Hans von Seeckt, ein ziemlich rechter, aber hochintelligenter Knochen, der noch beim Kapp-Putsch als Chef des Truppenamtes Neutralität wahren wollte und erklärt hatte: „Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr.“ Dennoch übertragen Ebert, Stresemann und Marx ihm vom 8. November 1923 bis zum 28. Februar 1924 die Exekutivgewalt des gesamten Deutschen Reiches. Er verbietet sogleich KPD und NSDAP und die ihr nahestehende Tarnorganisation, die Deutschvölkische Freiheitspartei, geht gegen die Putschisten in Bayern vor. Er und die anderen politisch Verantwortlichen sind sich 1923 einig: Die Republik wollen wir retten, die Einheit des Reiches erhalten. Mit Hilfe von Ermächtigungsgesetzen ist das möglich. Also setzen wir sie ein. 1926 und 1927 werden für zwei sechsmonatige Amtspausen des Reichstages und die in diese Zeit fallende Inkraftsetzung von Wirtschaftsabkommen zwei weitere „Ermächtigungsgesetze“ verabschiedet. Jene, die 1933 abstimmen müssen und abstimmen werden über jenes allein noch bekannte Ermächtigungsgesetz, erinnern sich daran. 1932 ist die braune Diktatur kein wirklich bedeutendes Schreckgespenst. Schreckgespenst ist ein Sieg der moskau- und stalintreuen KPD. Hitler erscheint ihnen gegenüber als das kleinere Übel. Das antidemokratische Denken ist weit verbreitet, der Republik sind die Verteidiger abhandengekommen.

          Die nächste Wahl soll die letzte sein

          Einen Masterplan hat Hitler nicht. Aber drei Forderungen: die Kanzlerschaft, baldige Neuwahlen, um die absolute Mehrheit aus der Regierungsposition zu sichern, und ein Ermächtigungsgesetz. Nach den abermals von der NSDAP mit fast 38 Prozent gewonnenen Juli-Wahlen 1932 - die absolute Mehrheit wird Hitlers Partei erst erreichen, als alle Gegner ausgeschaltet sind - ist die NSDAP alleinige Staatspartei geworden. Goebbels notiert schon unter dem 7. August: „Ein Kabinett von Männern. Wenn der Reichstag das Ermächtigungsgesetz ablehnt, wird er nach Hause geschickt. Hindenburg will mit einem nationalen Kabinett sterben. Wir werden die Macht niemals wieder aufgeben, man muss uns als Leichen heraustragen.“ Wie wahr, wie schrecklich wahr das alles. Und am 12. August heißt es: „Ohne große Vollmacht kann Hitler die Lage nicht meistern. Bekommt er die Vollmacht nicht, dann muss er ablehnen. Lehnt er ab, dann wird eine gewaltige Depression in Bewegung und Wählerschaft die Folge sein.“

          Doch es ist der Reichspräsident, der im August ablehnt. Hindenburg - das ist jetzt der letzte schwache Schutzpatron, den die Republik noch hat - kann sich nicht überwinden, den böhmischen Gefreiten zu ernennen, ihm den deutschen Staat auszuliefern. Im Januar 1933 ist es aber so weit. Was geschehen soll, ist klar. Kampf gegen die KPD, ohne den allgemein gefürchteten Generalstreik zu riskieren, und ein Ermächtigungsgesetz. Darum geht es schon in der ersten Kabinettssitzung am Abend des 30. Januar von fünf Uhr an. Vielleicht zum Anfangen ein klitzekleines Ermächtigungsgesetz, ein „Ermächtigungsgesetzlein“, „nur zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“, das braucht bloß eine einfache Mehrheit, wie Staatssekretär Otto Meissner anmerkt?

          Nein. Ein großes Ermächtigungsgesetz. Ein letztes. Aber diesmal nicht, um die Republik zu retten, ganz im Gegenteil: um mit dem Parlamentarismus aufzuräumen. Um den autoritären Führerstaat, das Führerprinzip zu etablieren. Es ist bezeichnend, dass im Kabinett die Koalitionspartner, also Papen, der Vizekanzler und Reichskommissar für Preußen, und Wirtschaftsminister Hugenberg, sich diese Forderung bereits zu eigen gemacht haben, die ganz oben auf der gemeinsamen Prioritätenliste steht. Gemeinsam wollen sie die Zustimmung des Zentrums gewinnen, denn man hat ja keine parlamentarische Mehrheit. Es ist ein weiteres Minderheitskabinett, das wir vor uns haben an diesem Januarabend, bis zur nächsten Wahl im März. Die aber dann wirklich die allerletzte sein soll.

          Das Volk wird vor seinen Rechten geschützt

          „Es sei am besten, schon jetzt festzulegen, dass die kommende Wahl zum Reichstag die letzte sein soll und eine Rückkehr zum parlamentarischen System für immer zu vermeiden sei“, sagt - in der zweiten Kabinettssitzung am 31. Januar 1933, Sitzung folgt jetzt auf Sitzung - Hitler? Nein: Papen! Aber Hitler greift das sofort auf: „Der Reichskanzler gibt das folgende Versprechen: Die bevorstehende Wahl zum Reichstag soll die letzte sein. Eine Rückkehr zum parlamentarischen System ist unbedingt zu vermeiden.“ Wie hätten die Wähler am 5. März 1933 wohl abgestimmt, hätten sie gewusst, was da von ihrer neuen Reichsregierung offen und einvernehmlich am Kabinettstisch verabredet wurde?

          Jetzt geht alles rasend schnell. Auf dem Weg zu diesem letzten Ermächtigungsgesetz stehen seine kleinen Cousins Spalier - die Notverordnungen. Mehr als 130 sind es seit 1919. Und zwei ganz besonders bedeutsame stehen am Schluss. Eigentlich sind diese beiden Notverordnungen das Grundgesetz des Dritten Reiches, wie schon Ernst Fraenkel schreibt. Sie bereiten dem Maßnahmenstaat den Boden, höhlen den Normenstaat von BGB und Weimarer Reichsverfassung schon bereits entscheidend aus, setzen die zentralen Grund- und Menschenrechte, von der Versammlungsfreiheit bis zum Postgeheimnis, außer Kraft.

          Da ist die Verordnung vom 4. Februar „zum Schutze des deutschen Volkes“ - vor der Wahrnehmung seiner demokratischen Rechte, hätte der vollständige Titel eigentlich lauten müssen. Sowie die Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar. Nein, die Nationalsozialisten haben den Reichstag nicht angezündet, sondern Marinus van der Lubbe, der „woutende“ holländische Radikale, der schon beim Wohlfahrtsamt Neukölln und am Berliner Schloss gezündelt hatte und nun im Reichstag den Volltreffer landet, als er seine mitgebrachten feuchten Petrolstreifen unter anderem im Plenarsaal in der riesigen getäfelten Regalwand mit den Abgeordnetenpapieren anzündete, hier der Kamineffekt sich zügig einstellte, der die Reichstagskuppel platzen lässt. Aber die Nazis nutzen diese Chance.

          Inszenierung über dem Grab der Preußenkönige

          Für Hitler und seine Entourage steht der Schuldige sogleich fest: die „Kommune“, die Kommunisten, der einzige Gegner, den er noch fürchtet, weil hinter ihm 6 Millionen Wähler stehen. Die KPD wird verboten, die Länder werden gleichgeschaltet, Menschenjagden beginnen gegen die Feinde der neuen Volksgemeinschaft, gegen Sozialdemokraten, Juden, Homosexuelle, während die neue Reichsregierung die Wahlen am 5. März „gewinnt“, die NSDAP allerdings mit 44 Prozent die absolute Mehrheit verfehlt. Die ersten Lager werden errichtet, die Eröffnung des KZs Dachau wird vom gerade ernannten, weitgehend unbekannten Münchner Polizeipräsidenten und bayerischen SS-Führer, Heinrich Himmler, am 20. März beiläufig auf einer lokalen Pressekonferenz angekündigt.

          Aber Hitlers junge Herrschaft stützt sich nicht allein auf Gewalt. Sie spricht die Massen in geschickten Inszenierungen an. Eine ist der „Tag von Potsdam“, Goebbels erste Meisterleistung als Reichspropagandaminister, die inszenierte „Versöhnung“ der jungen braunen Bewegung und ihres Führers mit den alten Trägern der Macht, symbolisiert durch den „Diener“ Hitlers vor Hindenburg über dem Grab der Preußenkönige vor der Garnisonkirche. Verführung und Gewalt. Das ist das Wechselbad, in das diejenigen Reichstagsabgeordneten gestürzt werden, die am 23. März über das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“, über das Ermächtigungsgesetz abstimmen, ihm zu einer Zweidrittelmehrheit verhelfen sollen, ohne den Regierungsparteien NSDAP und DNVP anzugehören oder der SPD, die nicht zustimmen wird.

          Die Selbstentmachtung des Reichstags

          Hitler lockt und stellt dem katholischen Zentrum um Brüning und Kaas ein großzügiges Reichskonkordat sowie einen Kontrollausschuss in Aussicht. Was auch das letzte Häuflein der fünf im Parlament verbliebenen Liberalen um Theodor Heuss und Ernst Lemmer zur Zustimmung bewegen wird. Das Konkordat wird kommen, aber der Kontrollausschuss wird niemals eingesetzt. Verfahrenstricks, die Änderung der Geschäftsordnung, die es Göring als Parlamentspräsident erlaubt, die Zahl der Abwesenden, teilweise schon Verhafteten je nach Bedarf zu zählen oder wegzulassen, um in jedem Fall das Quorum für eine Zweidrittelmehrheit zu erreichen, gehören zum Instrumentarium. Sie sollten sich am Ende als unnötig erweisen, denn während die Kroll-Oper von Maschinengewehrposten umstellt ist und im mit Hakenkreuzfahnen geschmückten Haus Bewaffnete patrouillieren, kommt die erforderliche Mehrheit zustande.

          War es im bürgerlichen Lager Resignation, war es nationales Pflichtgefühl, an das Hitler schon seit Wochen unaufhörlich appellierte, war es die Hoffnung auf späteres Entgegenkommen für die jetzt gezeigte Kooperationsbereitschaft? Der Reichstag hatte jedenfalls seiner Selbstentmachtung zugestimmt. Das auf vier Jahre befristete Ermächtigungsgesetz wurde 1937 übrigens verlängert und blieb bis zum Ende von Hitlers Herrschaft in Kraft. Zusammen mit den genannten Februar-Notverordnungen und der bald folgenden, immer weiter ausgeweiteten, für viele tödlichen „Heimtückeverordnung“ bildete das Ermächtigungsgesetz die formalrechtliche Basis für diese erste deutsche Diktatur, die verfassungsrechtlich fortan nur noch einen einzigen Zustand kennen sollte: den Ausnahmezustand.

          Eine wiederauferstandene Weimarer Verfassung

          Und da bietet sich zum Schluss doch noch eine letzte verblüffende Wette an. Thema diesmal: diese seltsame Weimarer Verfassung. Grässlich, eine Fehlkonstruktion, zum Untergang verdammt, gänzlich unpraktikabel, in der Geschichte gescheitert, mit Schuld am Debakel der ersten Republik, wird der schon eingangs erwähnte, halbwegs gebildete Gesprächspartner (Ihr abermaliges potentielles Opfer) bei diesem Thema sagen. Und Sie erwidern: Unsinn, diese Verfassung konnte man zum Guten und zum Schlechten auslegen, das hing, wie eben gezeigt, ganz von den handelnden Personen und deren Intentionen ab. Sicher, die Weimarer Verfassung hatte nach dem Untergang keine gute Presse. Sie wurde nicht zuletzt im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee, der die Rohfassung des Grundgesetzes vorbereiten sollte, wie dann auch im Parlamentarischen Rat selbst als völlig missglücktes Produkt verworfen, allenfalls als Negativbeispiel herangezogen.

          Aber sie hat dennoch überlebt. Präziser: Sie ist wiederauferstanden. Es gab tatsächlich einen Politiker, der sie schon wenige Jahre später als Vorlage wiederentdeckt und in seinem Land bis heute fest etabliert hat: Charles de Gaulle. Er suchte eine Präsidialverfassung mit einem starken Präsidenten, so stark wie ein Monarch, ein König auf Zeit. Er selbst war 1958 in großer staatlicher Notlage zurückgerufen aus dem freiwilligen lothringischen Exil, war zum Diktator auf Zeit ernannt worden durch eine panische Nationalversammlung. Wodurch? Durch nichts anderes als ein Ermächtigungsgesetz. Er trat an unter der Bedingung, eine neue Verfassung etablieren zu können, die ihm, den Wahlerfolg im Plebiszit vorausgesetzt, eine mächtige Position auf Jahre sicherte. Und er wählte dazu - das Modell „Weimar“. Ermächtigungsgesetze allerdings schloss de Gaulle für immer aus.

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