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Heimat und das Virtuelle : Flirrendes Gestern, erträumtes Morgen

  • -Aktualisiert am

Zog von Island in den deutschen Osten: die Schriftstellerin Berit Glanz Bild: privat

Ein Ort wird greifbarer in den Erinnerungen fremder und geliebter Menschen: Warum ich bei Heimat nicht nur an analoge Orte denke, sondern auch an virtuelle Welten.

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          Wenn ich zurückschaue, wo in meinem Leben Heimat war und ist, dann kommen mir nie allein analoge Orte in den Sinn, sondern auch virtuelle Räume, die für mich in unterschiedlichen Lebensphasen ein Zuhause waren oder es immer noch sind. Ich habe die kategorische Trennung von Internet und Realität nie verstanden, verschiedene Räume haben unterschiedlichen Einfluss auf mich, manche verändern mich mehr, andere weniger. Zwischen meinem Leben im Schwimmbad und meinem Leben außerhalb des Beckens baue ich keine Grenze auf, warum sollte ich diese zwischen meinem Leben im Realen und im Internet akzeptieren?

          Voraussetzung einer solchen Trennung von virtuellem und realem Raum ist der Glaube an etwas, das wie Walter Benjamins Konzept der Aura das Weltliche verzaubert und mit Bedeutung und dem gesamten Flirren der Vergangenheit auflädt. Eine beinahe fetischisierte Hingabe an die Materialität des Wirklichen, an authentische Gespräche mit realen Menschen an Orten, die vor Echtheit strotzen, wogegen die Virtualität angeblich durch einen grundlegenden Mangel an eben dieser Materialität gekennzeichnet ist.

          Wer eine Zeitlang in seinem Alltag zwischen virtuellen und realen Räumen hin- und hergewechselt ist, wird wahrscheinlich sehr konkret erfahren haben, dass diese Abgrenzung wenig Sinn ergibt, dass das eigene im Internet gelebte Leben oft starke virtuelle Spuren hinterlässt und dass manche Orte im Internet zweifelsohne mit Aura aufgeladen sind. Das digitale Leben kann in die Realität hineintreten oder sich untrennbar mit ihr verzahnen.

          Der Ort streckte sich im Netz nach mir aus

          So lernte ich das Haus in den Westfjorden Islands erst auf dem Bildschirm kennen, bevor ich es selbst besuchen und darin wohnen konnte. Immer wieder erschien es in meiner Facebook-Timeline in Urlaubsfotos mir nur flüchtig bekannter Verwandter oder in den eingescannten Bildern der Familiengruppe. Der Ort streckte sich im Netz nach mir aus, wurde greifbarer in den Erinnerungen fremder und geliebter Menschen, und mit jedem zufälligen Auftauchen von Bildern des Hauses wuchsen kleine Verbindungsstränge. Ein einsames Haus auf einem Hügel, der Blick öffnet sich auf den Nordatlantik, ein- und ausfahrende Fischerboote, alte Holzhäuser mit ihrem Wetterschutz aus Wellblech und moderne Eigenheime, die sich aneinanderschmiegen, windgeschützt nur von den hohen Bergen, die das Dorf einrahmen. Das Geburtshaus eines längst verstorbenen Mannes, dessen zahlreiche Kinder, Enkel und Urenkel nun das alte Gebäude renoviert haben und abwechselnd ihre Sommerferien dort verbringen und Bilder von ihrem Ferienglück online teilen.

          Ist man dort, versucht man sich an dem gemeinsamen Projekt zu beteiligen, mäht den Rasen, verewigt sich im Gästebuch und erledigt kleinere Reparaturen. Die Wände sind übersät mit Familienbildern, manche schwarz-weiß, andere farbig, verschiedene Jahrzehnte in Mode und Frisuren nach eigenem System über die Wände verteilt. Wenn nachts das Innere des Hauses vom Licht der Polarnacht erleuchtet ist, fühlt man sich beobachtet von der Genealogie dieser weitverzweigten und über die Welt verstreuten Familie. In den wenigen Wochen, die ich dort verbrachte, fühlte ich mich so heimisch wie sonst selten, als neu hinzugekommener Teil eines weitverzweigten Geflechts mit einem klar markierten Ursprung, an dem ich nun auch willkommen war.

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