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Montaignes Grabmal gefunden? : Sargdeckel sind geduldig

Ist er das? Experten begutachten das Grab, in dem möglicherweise Michel de Montaigne liegt. Bild: AFP

Der Nachwelt abhanden gekommen: Der Leichnam des großen Philosophen Montaigne war verschwunden. Wurde er jetzt in Bordeaux gefunden?

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          Philosophieren, so Michel de Montaigne, heißt sterben lernen. Von seinem eigenen Ende hatte er eine klare Vorstellung: „Ich will, dass der Tod mich beim Kohlpflanzen antreffe – aber derart, dass ich mich weder über ihn noch gar über meinen unfertigen Garten gräme.“ Natürlich kam es anders: Montaigne – Jurist, Politiker, Philosoph, Bürgermeister von Bordeaux und Begründer dessen, was wir heute unter dem Begriff Essayistik leider mehr vernachlässigen als pflegen – wurde 1533 auf dem Schloss seines Urgroßvaters im Department Dordogne geboren und starb dort 1592 während einer Messe in der Schlosskapelle.

          Während das Herz des Philosophen auf ausdrücklichen Wunsch der Witwe auf dem Schloss verblieb, wurde der Leichnam nach Bordeaux gebracht und im Laufe der Jahrhunderte mehrfach umgebettet. Schiller sollte es gut zwei Jahrhunderte später in Weimar auch nicht besser ergehen. Was lästige Wohnungswechsel betrifft, scheint der Unterschied zwischen Leben und Tod gar nicht so groß zu sein: Irgendetwas geht beim Umzug immer verloren. Bei Schiller war es bekanntlich der Schädel, im Fall von Montaigne der komplette Leichnam. Denn es gab zwar ein prächtiges Ehrengrab, doch das war leer, und wo Montaignes Überreste geblieben waren, hat die rüde Nachwelt ebenso schnöde vergessen wie sie Schillers Schädel verbaselt hat.

          Nierensteine als Beweis

          Nun ist die Aufregung in Bordeaux groß, seitdem in den Kellergewölben eines dortigen Museums eine zuvor kaum beachtete Familiengruft genauer untersucht worden ist. Sie barg unter anderem einen hölzernen Sarg, der diverse Überreste eines menschlichen Körpers enthielt und praktischerweise mit einer Aufschrift versehen war: In großen braunen Buchstaben soll dort der Name Montaigne zu lesen sein. Wer wollte da noch Zweifel hegen? Der beglückte Museumsdirektor meinte die Präsenz des Philosophen geradezu spüren zu können. Montaigne selbst, der unter Nierensteinen litt, nach denen nun als Indizienbeweis gefahndet werden soll, hätte sich wohl nicht so leicht überzeugen lassen.

          Im neunten Kapitel seiner „Essais“, das von Ruhm und Nachruhm handelt, gibt er zu bedenken, dass ein Name und die Sache, die er bezeichnet, nicht dasselbe sind: „Der Name ist artikulierter Schall, welcher die Sache bezeichnet und andeutet; der Name ist kein Teil der Sache oder ihres Wesens; es ist ein fremdes Teilchen, das der Sache beigefügt wird und außer ihr besteht“. Mit anderen Worten: Sargdeckel sind geduldig. Man muss nicht alles glauben, was auf ihnen steht. Die Aufmerksamkeit der Nachwelt, so ließ Montaigne seine Leser schon zu Lebzeiten wissen, sei ihm eher schnuppe und Nachruhm eine fragwürdige Angelegenheit: „Wir sind alle leer und hohl, und also sollten wir uns nicht mit Wind und Schall anfüllen.“ An ihren Nierensteinen werden wir die Philosophen wahrlich nicht erkennen.

          Hubert Spiegel
          Redakteur im Feuilleton.

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