https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/gespraech-mit-richard-millet-was-breivik-uns-sagen-wollte-11896090.html

Gespräch mit Richard Millet : Was Breivik uns sagen wollte

  • Aktualisiert am
Richard Millet beeindruckt „die formale Perfektion“ der Tat von Anders Breivik, meint sein „Loblied“ auf ihn aber ironisch

Richard Millet beeindruckt „die formale Perfektion“ der Tat von Anders Breivik, meint sein „Loblied“ auf ihn aber ironisch Bild: Reitzaum/Le Figaro Magazine/laif

Richard Millets „Loblied auf Breivik“ löste in Frankreich einen Skandal aus. Der Autor verlor seinen einflussreichen Posten als Lektor bei Gallimard. Ein Treffen in Paris.

          4 Min.

          Sie schreiben, Frankreich sei „in der Literatur nur noch eine Bananenrepublik“. Was verdrießt Sie so sehr?

          Der Verfall der Sprache und ihrer Struktur, das Fehlen jeglichen Stils, die Kulturlosigkeit der Autoren...Außerdem bekümmert mich die Funktionsweise der kleinen literarischen Welt in Paris, ihre Konzentration in wenigen Arrondissements. Natürlich gibt es in der Literatur unserer Zeit auch Ausnahmen. Aber es werden immer weniger, wie ich mit Bedauern feststellen muss.

          An wen denken Sie da?

          An Thomas Bernhard. An die Essays von Roberto Calasso und Claudio Magris. Vor allem an W.G. Sebald. Seine Sprache ist bemerkenswert, die Musikalität seiner Sätze erstaunlich. Sebald beobachtet das Tragische in der Geschichte. Er passt in keine literarische Schublade und mischt Erzählung, geschichtliche Darstellung und Roman. Er hat es der Literatur ermöglicht, sich zu erneuern. Im Unterschied zu Houellebecq, der als symptomatisch für unsere Zeit gelten kann und dessen Sprache nicht durchgearbeitet ist. Und mehr noch Umberto Eco: Seine vereinfachte Version von „Der Name der Rose“ ist reine Demagogie.

          Es handelt sich also nicht um ein rein französisches Phänomen, das Sie da beschreiben ...

          Nein, das ist ein europäisches Phänomen, das aber in besonderem Maße Frankreich betrifft.

          Aus welchen Gründen?

          Aus historischen Gründen. Frankreich hat sich trotz de Gaulles und Malraux’ Taschenspielertricks niemals von der Niederlage 1940 erholt, es hat Vichy und die Entkolonisierung niemals verarbeitet. Anders als die Angelsachsen, die ihre Vergangenheit leichter akzeptieren und besser mit ihren Niederlagen umgehen, hat Frankreich ein Problem mit seiner Geschichte. Hinzu kommt noch der übermäßig aufgeblasene Achtundsechziger-Mythos, dieser gewaltige Betrug, der hinter der Fassade des Situationismus und des Surrealismus die Verbrechen des Maoismus und des Stalinismus versteckt. (Millet richtet sich auf.) Die Achtundsechziger haben das französische Bildungssystem zerstört und jeglicher Form von Autorität und Hierarchie die Glaubwürdigkeit genommen.

          Aber das ist lange her ...

          Das Erbe ist die politische Korrektheit. Deswegen darf man in Frankreich über gewisse Dinge nicht reden. Wenn Sie mit dem Zug in Rotterdam ankommen, sehen Sie als Erstes eine riesige Moschee. In meinen Augen untergräbt diese Moschee das typisch Holländische. Sie springt mich an. Muss ich diese Tatsache in meine Schilderung aufnehmen, oder muss ich mit Schweigen darüber hinweggehen? Wenn ich darüber rede, ziehe ich mir den Zorn der politisch Korrekten zu. Lasse ich sie weg, übe ich Selbstzensur.

          In Ihren Augen sind die vielen Moscheen in unseren Städten ein Zeichen für den Niedergang Europas. Sie erwecken den Eindruck, die Morde Breiviks seien eine Reaktion auf diesen Niedergang. Haben Sie deshalb das „Loblied auf Anders Breivik“ geschrieben?

          Zunächst einmal und damit das ganz klar ist, möchte ich sagen, dass ich Breiviks Reaktion für monströs halte. Daran möchte ich keinen Zweifel lassen. Der Titel des Essays hat Empörung ausgelöst. Ich dachte, die Leute würden verstehen, dass er ironisch gemeint ist.

          Wirklich? Das war doch vorhersehbar.

          Weitere Themen

          Er wollte den Mond umarmen

          Dichterlegende Li Bai : Er wollte den Mond umarmen

          Ein Taoist unter den Folksängern: Der Schriftsteller Ha Jin hat eine einfühlende Biographie des chinesischen Dichters Li Bai geschrieben, der unstet lebte, Legenden bildete und dabei ein großes Werk schuf.

          Topmeldungen

          Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei der Vereidigung am Samstag mit seinem Kabinett in Ankara

          Türkisches Kabinett : Erdogans neue Mannschaft

          Mit der Ernennung von Mehmet Simsek zum Finanzminister zeigt sich der türkische Präsident offen für eine neue Wirtschaftspolitik. Nicht nur im Finanzressort signalisiert Erdogan mehr Pragmatismus.

          Großprotest in Warschau : Tusks Marsch der „Hoffnung“

          Im Streit um die „Lex Tusk“ der PiS-Regierung mobilisiert Polens Opposition für eine Kundgebung in Warschau Hunderttausende. Die Zuversicht für einen Regierungswechsel im Herbst wächst.

          Newsletter

          Immer auf dem Laufenden Sie haben Post! Die wichtigsten Nachrichten direkt in Ihre Mailbox. Sie können bis zu 5 Newsletter gleichzeitig auswählen Es ist ein Fehler aufgetreten. Bitte versuchen Sie es erneut.
          Vielen Dank für Ihr Interesse an den F.A.Z.-Newslettern. Sie erhalten in wenigen Minuten eine E-Mail, um Ihre Newsletterbestellung zu bestätigen.