Interview mit Max Czollek : Integration und Leitkultur? Das passt nicht
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Der Autor Max Czollek Bild: OSTKREUZ - Agentur der Fotografe
Das neue Buch von Max Czollek heißt „Gegenwartsbewältigung“. Aber muss die deutsche Gegenwart wirklich „bewältigt“ werden? Und wie soll das gehen? Ein Gespräch.
Vor drei Jahren schrieb der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière einen Artikel, den Sie auch in Ihrem neuen Buch „Gegenwartsbewältigung“ zitieren: „Unsere Vergangenheit prägt unsere Gegenwart und unsere Kultur. Wir sind Erben unserer deutschen Geschichte.“ Hat er recht?
Die Frage ist: Was meint er damit? Der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland argumentiert so, aber auch der schwarze Schriftsteller James Baldwin würde sagen, dass Geschichte unsere Gegenwart prägt. Im Begriff der Geschichte kristallisiert sich eine der zentralen gegenwartspolitischen Diskussionen, nämlich: Was meinen wir, wenn wir sagen, dass wir unsere Geschichte sind? Zielt das darauf, dass die Deutschen mehr sind als „nur“ ihre Nazi-Geschichte? Oder meint man, dass Geschichte in der Gegenwart fortwirkt und dass mit 1945 kein geschichtlicher Bruch stattgefunden hat, sondern es seither eine Kontinuität rechten Terrors und Denkens gibt?
Sie kritisieren, dass in Deutschland ein beschönigendes Bild von Geschichte vorherrsche. Darin kommt Ihrer Meinung nach den Juden eine symbolische Funktion zu. Wie sieht sie aus?
In der Nachkriegsgeschichte haben „die Juden“ zunehmend die Funktion erhalten, einer deutschen Öffentlichkeit zu versichern, dass sie den Nationalsozialismus bewältigt hat. Das ist auch für die Gegenwart nachvollziehbar: Solange Juden in Deutschland leben, ist Deutschland nicht Nazi. Die symbolische Rolle der Juden erlaubt eine Abgrenzung von der Vergangenheit und verhindert, dass man Fragen nach Kontinuitäten rassistischen oder völkischen Denkens und Handelns überhaupt stellt. Solange man „die Juden“ gut behandelt, kann man wieder stolz sein auf Deutschland und deutsche Geschichte. Entscheidend ist, dass das nicht gleichermaßen für die Behandlung von Sinti und Roma oder Muslimen gilt.
Inwiefern unterscheidet sich die Behandlung von Muslimen?
Nehmen wir Philipp Amthors Äußerung am 27. Januar, dem 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Amthor gab ein Interview, in dem er auch nach der Lage des Antisemitismus in Deutschland gefragt wurde, und antwortete: „Antisemitismus, das darf man nicht vergessen, ist vor allem in muslimisch geprägten Kulturkreisen besonders stark vertreten.“ Die deutsche Gesellschaft hingegen sei als Meister der Aufarbeitung ein schillerndes Vorbild, muslimische Migranten müssten sich daher „zu Recht an unsere Kultur halten“. Die symbolische Vereinnahmung der Juden und die Idee einer deutschen Leitkultur gehen hier eine bemerkenswerte und unheilvolle Verbindung ein – ausgerechnet am Tag der Befreiung von Auschwitz.
Ihr Buch heißt „Gegenwartsbewältigung“. Was genau gilt es zu bewältigen?
Wir leben heute in einer Gesellschaft, die vielfältiger ist als noch vor ein paar Jahrzehnten, deswegen können wir sie anders denken. Aber ein Potential ist noch keine Realität, denn zugleich wird die Gesellschaft auf politischer und gesellschaftlicher Ebene von ihrer Vergangenheit bedroht, womit ich die Aktualität einer bestimmten völkischen und rassistischen Vorstellung von Gesellschaft meine. Das wird verkörpert auch, aber nicht nur durch die AfD und äußert sich in rassistischen Handlungen, man denke an den NSU, an Hanau, Halle, Chemnitz, die Ermordung Walter Lübckes. Und weil die deutsche Gegenwart demnach durch die Vergangenheit bedroht wird, müssen wir sie anders denken. Gegenwartsbewältigung bedeutet also auch, den antifaschistischen Geist des Grundgesetzes für die plurale Gegenwart neu zu denken – als postmigrantischen Antifaschismus, wenn man so will.