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Gerd Gigerenzer : Die Auslagerung des Geistes

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Gerd Gigerenzer

Gerd Gigerenzer Bild: Edge.org

Das Internet stellt unsere kognitiven Funktionen davon, Informationen in unserem eigenen Kopf zu suchen, auf die Informationssuche außerhalb unseres Kopfes um. Es ist freilich nicht die erste Technologie, die das tut, meint Gerd Gigerenzer - und fragt nur einmal am Tag seine Emails ab.

          3 Min.

          Als ich im Herbst 1989 an das „Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences“ in Palo Alto kam, warf ich einen neugierigen Blick in mein neues kajütenartiges Büro. Verblüffenderweise enthielt der Raum nicht die geringste technische Ausstattung, kein Telefon, kein Email oder sonstige Kommunikationsmittel. Nichts würde hier meine Gedankengänge unterbrechen können. Die technischen Hilfsmittel standen außerhalb der Büros zur Verfügung, wann immer man wünschte, durften aber nicht in den Arbeitszimmern ihr Eigenleben entfalten. Diese geschützte Zone war bewusst darauf angelegt, den Gelehrten die nötige Zeit zum Nachdenken, und zwar zu tiefem Nachdenken, zu verschaffen.

          Mittlerweile aber hat sich das Center, wie andere Institutionen auch, der Technologie ergeben. Heute erwarten die Menschen im Zustand ständiger Alarmbereitschaft die nächste Email, die nächste SMS, als versprächen sie sich von ihnen die endgültige, weltbewegende Erkenntnis. Ich finde es erstaunlich, dass Gelehrte der „denkenden Zunft“ ihre Aufmerksamkeit so leicht von außen beherrschen und einem Minutentakt unterwerfen lassen - wie jemand, der bereit ist, ein gutes Gespräch auf das Klingeln eines Handys hin zu unterbrechen. Würden jede Sekunde neue Mitteilungen auf meinem Bildschirm auftauchen, könnte ich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Dem ursprünglichen Geist des Centers treu, lese ich meine Emails auch heute nur einmal am Tag und schalte mein Mobiltelefon nur ein, wenn ich jemanden anrufen will. Ein oder zwei Stunden am Tag ohne jegliche Unterbrechung sind für mich der Himmel auf Erden.

          Der durchschnittliche moderne Kopf

          Das Internet lässt sich aber auch aktiv statt reaktiv nutzen, sprich es lässt sich verhindern, dass es darüber bestimmt, wie lange man grübeln darf und wann man seinen Gedankengang abbrechen muss. Stellt sich die Frage, ob auch ein aktiver Umgang mit dem Internet unser Denken verändert. Ich glaube, ja. Das Internet stellt unsere kognitiven Funktionen davon, Informationen in unserem eigenen Kopf zu suchen, auf die Informationssuche außerhalb unseres Kopfes um. Es ist freilich nicht die erste Technologie, die das tut.

          Nehmen wir nur die Erfindung, die das menschliche Geistesleben mehr als alles andere verändert hat: die Schrift und in der Folge die Druckerpresse. Die Schrift eröffnete die Möglichkeit, zu analysieren; geschriebene Texte kann man vergleichen, was in einer rein mündlichen Tradition schwierig ist. Die Schrift ermöglichte auch Genauigkeit, etwa in der höheren Arithmetik - ohne irgendeine Form von schriftlicher Aufzeichnung geraten diese geistigen Fähigkeiten schnell an ihre Grenzen. Doch entwertet die Schrift das Langzeitgedächtnis, und die Kunst des Auswendiglernens ist an den Schulen im Wesentlichen durch das Einüben von Lesen und Schreiben ersetzt worden.

          Die meisten von uns können sich kein einstündiges Volksmärchen und keine Lieder mehr merken, was in einer mündlichen Tradition selbstverständlich war. Der durchschnittliche moderne Kopf hat ein schwach ausgeprägtes Langzeitgedächtnis, vergisst eher schnell und sucht lieber in äußeren Quellen wie Büchern nach Informationen als im eigenen Gedächtnis. Das Internet hat diese Entwicklung, Wissen von innen nach außen zu verlagern, noch verstärkt und uns zu neuen Strategien verholfen, wie man mit Suchmaschinen findet, was man wissen möchte.

          Eine Art Kollektivgedächtnis

          Dies soll nicht heißen, dass unser Geist vor der Schrift, der Druckerpresse und dem Internet nicht über die Fähigkeit verfügte, Informationen aus externen Quellen abzurufen. Nur waren diese Quellen andere Menschen, und die erforderlichen Fertigkeiten waren sozialer Natur, wie etwa die Künste der Überredung und der Konversation. Um Informationen aus Wikipedia zu beziehen, benötigt man hingegen keine sozialen Fertigkeiten mehr.

          Das Internet ist im Kern ein gigantischer Informationsspeicher, und wir befinden uns mitten in dem Prozess, die Speicherung und das Abrufen von Informationen aus unseren Köpfen in den Computer auszulagern, so wie viele von uns bereits die Fähigkeit des Kopfrechnens in den Taschenrechner ausgelagert haben. In diesem Prozess könnten wir einige Fertigkeiten einbüßen, wie etwa das Vermögen, sich längere Zeit auf eine Sache zu konzentrieren und große Informationsmengen im Langzeitgedächtnis zu speichern. Doch verhilft uns das Internet auch zu neuem Know-how, wie man an Informationen herankommt.

          Es ist wichtig zu verstehen, dass unsere geistigen Vermögen und die Technologie ein zusammenhängendes System bilden. Das Internet ist eine Art Kollektivgedächtnis, an das sich unser Geist anpassen wird, bis es einmal durch eine neue Technologie ersetzt wird. Dann werden wir andere kognitive Fertigkeiten auslagern - und hoffentlich neue erlernen.

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