Georges-Arthur Goldschmidt : Es gibt den Text – mich gibt es nicht
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Georges-Arthur Goldschmidt, geboren 1928 in Hamburg, lebt seit 1948 in Paris. Seine Wohnung gehört der Familie seiner Frau, die dort geboren wurde. Bild: Isolde Ohlbaum/laif
Georges-Arthur Goldschmidt begann als Übersetzer. Heute, mit 93 Jahren, ist er das, wozu er sich nie berufen fühlte: ein Schriftsteller mit einer bewegten Vergangenheit.
Er erzählt die Anekdote, wie man einen Witz erzählt: „Es kommt ein kleiner Mann in die Kabine, ein Meter sechzig, mit Rucksack. Er will hinauf auf den Schauinsland. Es kommt ein zweiter kleiner Mann hinzu, ein Meter sechzig, mit Rucksack. Sie fahren hinauf und gehen denselben Weg. Da müssen sie sich natürlich unterhalten. Der eine biegt nach Wieden ab, der andere nach Todtnauberg. Das waren der Professor Heidegger und der Dr. Goldschmidt“ – der Philosoph und ein angesehener Richter aus Hamburg, der ein paar Jahre später auf die Ausübung seines Berufs verzichten muss und nach Theresienstadt deportiert wird. Die Episode ist ein schlechter Witz im Leben des noch ungeborenen Erzählers: „Stellen Sie sich vor: Mein Vater hat sich stundenlang mit Heidegger unterhalten. Sie haben sich bestens vertragen. Der eine so reaktionär wie der andere.“
Wir sitzen in der Wohnung von Georges-Arthur Goldschmidt in der Rue de Belleville im zwanzigsten Arrondissement von Paris. Man schreibt das Jahr vor der Pandemie. In diesem Haus hatten wir uns vier Jahrzehnte zuvor erstmals gesehen. Valery Giscard d’Estaing war damals Staatspräsident und Goldschmidt Deutschlehrer in der Banlieue. Er hatte Nietzsches „Zarathustra“ übersetzt. In der Quinzaine littéraire schrieb er über deutschsprachige Schriftsteller – manch einer verdankt ihm den Durchbruch in Frankreich.
Anlass dieses ersten Besuchs (F.A.Z. vom 5. September 1979) war eine „deutsche Welle“ in Paris gewesen, ausgelöst von der ersten Wahl zum Europäischen Parlament. Die Magazine brachten Sondernummern, Hachette lancierte eine „Bibliothèque allemande“. Günter Grass war zu Gast in der legendären literarischen Fernsehsendung „Apostrophes“.
Private Gründe
Sartre war erblindet, und der Marxismus hatte seine kulturelle Hegemonie verspielt. Grass musste das Modell des engagierten Schriftstellers hochhalten. Gleichzeitig begann der französische Aufstieg des „unpolitischen Dichters“ Peter Handke. Goldschmidts Befund: Handke biete eine Alternative zum „écrivain français“ und Grass als dessen deutsche Inkarnation.
Im Jahr zuvor hatte die epochale Ausstellung „Paris – Berlin“ stattgefunden. Die aus dem Nichts der Nachkriegszeit auftauchende „Nouvelle Droite“ rehabilitierte das faschistische Denken – beider Länder – und prophezeite die Wiedervereinigung. An eine dauerhafte Verbesserung der deutsch-französischen Beziehungen mochte Goldschmidt seinerzeit nicht so recht glauben. Er wurde 1928 in Hamburg als Sohn einer zum Protestantismus konvertierten jüdischen Familie geboren, als Jürgen-Arthur Goldschmidt. Der Vater war bei seiner Geburt 58 Jahre alt, die Mutter 46. Die Eltern schickten ihn zehn Jahre später zusammen mit seinem vier Jahre älteren Bruder Erich ins Exil. In einem französischen Internat hatten sie den Krieg überlebt, der Jüngere blieb im Land. Unheimlich wurde Georges-Arthur Goldschmidt später die dortige Deutschtümelei, unerträglich besonders der Kult um Heidegger. In der Tageszeitung Le Monde hatte er ihn 1974 erstmals gegeißelt.
Die Begegnung des von den französischen Philosophen als deutscher Meisterdenker verehrten Heideggers mit seinem Vater hatte private Gründe gehabt: Maria, das 1906 geborene älteste Kind der Goldschmidts, studierte in Freiburg und hatte sich in Ludwig Landgrebe verliebt. 1933 wurde geheiratet. Landgrebe und Heidegger waren Assistenten von Edmund Husserl. „Mein Schwager hat sich sehr edel benommen und sich nicht scheiden lassen“, sagt Georges-Arthur Goldschmidt. Wegen seiner jüdischen Frau hatte Landgrebe nicht Professor werden können.
Ein Erznazi
Georges-Arthur Goldschmidt holt zwei Bücher herbei. Da sind einmal die Aufzeichnungen seines Vaters mit Zeichnungen aus dem Lager: „Er hatte nichts begriffen, nichts verstanden. Seine Deportation empfand er als Ungerechtigkeit. Er gehörte zu den Leuten, die ihre Herkunft verneinen wollten.“ Der zweite Band ist Heideggers „Sein und Zeit“, in einer Ausgabe von 1941: „Mein Schwager hat sie mir geschenkt. Die Widmung an Husserl musste verschwinden.“ Die vielen Anmerkungen sind von Goldschmidt selbst: „Heidegger ist Teil meiner Familiengeschichte geworden.“
In Freiburg sollte Ludwig Landgrebe nach dem Krieg Heideggers Nachfolger werden. „Zum Glück ist er es nicht geworden, er wollte den Lehrstuhl nicht“, sagt Goldschmidt. Bei seinem Schwager begegnete er berühmten Gelehrten. „Ich habe mich nie getraut, denen zu sagen: ,Lieber Herr, Sie waren doch auch so ein dunkelbrauner Kerl. Sie Sau, sagen Sie mal, statt hier beim Braten herumzulügen, was haben Sie damals getan?‘“
Auf eine Wanderung mit Heidegger wollte ihn sein Schwager partout nicht mitnehmen. Aber Goldschmidt beobachtete sie dabei. „Da kam ein kleiner weißer Hund dazwischen. Ich war fünfzig Meter weit entfernt, kniete mich ins Gras und brüllte: Das ist der Hund des Seins! Der Hund des Seins. Mein Schwager war außer sich. Am Ende musste er dann doch zugeben, dass Heidegger ein Erznazi war.“
Goldschmidts Bestimmung
Auch mit dessen Apologeten Jacques Derrida hat sich Georges-Arthur Goldschmidt einen Scherz erlaubt. „Herr Professor, es ist mir eine große Ehre“, sprach er Derrida auf einer Ausstellung an. „Er war total irritiert, er konnte kein Wort Deutsch. Kein Wort. Jacques Lacan war zumindest witzig. Aber auch unfähig, auf Deutsch eine Bockwurst zu bestellen. Und die beiden haben sich erdreistet, die Franzosen über die Heiligkeit der deutschen Philosophie zu belehren!“
Als Antisemit ist Heidegger seit der Edition seiner „Schwarzen Hefte“ überführt, seine Sprache hat Goldschmidt schon früher seziert – die Rezeption aber nicht zu verhindern vermocht. Jetzt steckt Heideggers Einfluss in der „Cancel Culture“, die sich von Derrida und der „French Theory“ inspirieren lässt.
Noch immer ist Goldschmidts „Zarathustra“-Übersetzung ins Französische als Taschenbuch im Umlauf. Er hatte dafür in Annecy eine ursprünglich für die Wehrmacht bestimmte Ausgabe erstanden. Auf einer Bank zwischen See und Stadt hatte er sie zu lesen begonnen: „Das war die Sprache meiner Kindheit.“ Das Übersetzen entspricht Goldschmidts Bestimmung: „Es gibt den Text – und mich gibt es nicht. Das Großartige am Übersetzen ist, dass der Übersetzer verschwinden muss. Ich habe immer versucht, so genau und treu wie nur möglich zu übersetzen.“ Nur keine „Nachdichtung“!
Beim Mittagessen schwach geworden
Er entdeckte für sich Molière und verglich ihn mit Kafka (den er ebenfalls übersetzte): „Ihre Figuren kommen mit der Sprache nicht zurecht.“ Es folgte ein Essay über Rousseau und die Einsamkeit. „Im Internat hatte die Leiterin eine Stecknadel in Rousseaus ,Bekenntnisse‘ gesteckt, damit ich die Stellen über die Onanie nicht lese. Ich habe es natürlich sofort getan und die Wollust verspürt. Es war wie ein Gewitter.“
Vom Übersetzen konnte Goldschmidt nicht leben, Schriftsteller wollte er nie werden. „Ich war immer Studienrat.“ Doch nebenbei hat er „gekritzelt“ (so Goldschmidt selbst), Gedichte, schon als Jüngling: „Irgendwann wollte ich mit mir fertig werden und habe zwei Erzählungen geschrieben.“ Sie wurden nie ins Deutsche übersetzt.
Weil er aber mit sich noch immer nicht fertig war, hörte er nicht auf. „Zur Autobiographie hat mich Denis Roche überredet.“ Der war Mitbegründer der Avantgarde-Zeitschrift Tel Quel und Verleger bei Le Seuil. „Am Telefon hatte ich ihn noch abgewimmelt. Er lud mich zum Mittagessen ein, und ich gab nach. Nicht jeder, sagte mir Roche, sei gleichzeitig Protestant, Jude, Katholik, Atheist, Deutscher, Franzose und Beamter. Mit solch einer Familiengeschichte.“ Goldschmidt schrieb für ihn „Über den Flüssen“, auf Französisch und „unbewusst so, dass ich den Text selbst übersetzten konnte“.
Sein Bruder wurde zum überzeugten Militär
Die weiteren autobiographischen Schriften entstanden in der deutschen Muttersprache: „Die Hügel von Belleville“, zuletzt „Im Nachexil“. An seiner Selbsteinschätzung änderten sie nichts: „Ich bin kein Schriftsteller, ich komme nicht aus meiner Thematik heraus. Ich kann nur über meinen Nabel schreiben.“
Mit einer Erzählung über seinen Bruder Erich hat Goldschmidt nun seinen Familienroman in zwei Sprachen beendet (F.A.Z. vom 24. Juli). „Für meinen Bruder war seine jüdische Herkunft eine absolute Tragödie“, sie habe diesem verunmöglicht, das zu werden, was er werden wollte: ein Nazi. „Er wollte in die HJ, schrieb einem SS-Offizier, und die haben sich dann auch getroffen.“
Nur noch selten haben sich Erich und Georges-Arthur Goldschmidt nach dem Kriegsende gesehen: „Jede Unterhaltung war unmöglich. Er ging zur Fremdenlegion. Als Mitglied der OAS war er am Putsch der Generäle in Algier gegen De Gaulle beteiligt. Deshalb wurde er nicht befördert und konnte auch in Frankreich nicht Offizier werden.“ Einmal hat ihn der jüngere Bruder begleitet: „Araber bezeichnete er als Mülleimer. Er war weder Faschist noch Reaktionär – viel schlimmer. In der Armee war er sehr beliebt. Er brauchte ein Milieu, in dem er verschwinden konnte. Bei seiner Beerdigung waren fünf Generäle anwesend. Und tausend Offiziere. Er war ein katholischer Jude deutscher Herkunft. Er ging zur Messe. Der Gipfel der Ironie der Geschichte.“
Eine Ohrfeige für Jünger
Heute wohnen im Haus in der Rue de Belleville außer dem Ehepaar Goldschmidt ausschließlich Schwarze und Muslime, „entzückende Menschen, hilfsbereit“. Manchmal ist der Aufzug kaputt. „Wenn ich oder meine Frau den Bus nehmen, stehen sofort zwei Araber auf und bieten uns den Platz an. Franzosen tun das nie. Die lesen Zeitung und wollen nichts sehen.“
Goldschmidt lobt Deutschlands Umgang mit der Vergangenheit, dessen Flüchtlingspolitik – und misstraut dem Land gleichwohl. „Frankreich wird mit Haut und Seele von den Deutschen aufgefressen. Die Bücklinge der Franzosen vor den Deutschen sind unglaublich. Sie werden Deutschland nie verstehen. Ich definiere den Franzosen als jemanden, der Deutschland nicht verstehen kann.“
Er meint damit die merkwürdige französische Liebe zu Richard Wagner und Ernst Jünger. „Ich war zwei- oder dreimal im Elysée-Palast beim Präsidenten eingeladen und saß dort neben Jünger. Mitterrand verehrte ihn. Aber ich habe mich nicht getraut, Jünger zu fragen, wie es denn damals so war im besetzten Paris. Man hat mir erzählt, dass Jünger Mitterrand einen französischen Helm mit einem Durchschussloch gezeigt haben soll. Ich hätte ihm eine Ohrfeige verpasst und wäre abgehauen.“
Vom Bauern versteckt
Wegen einer Covid-Ansteckung musste Georges-Arthur Goldschmidt vor Kurzem für eine Woche ins Krankenhaus. Ein paar Jahre zuvor hatte er an einem Lungenödem gelitten: „Ich war dreißig Sekunden vom Tod entfernt, hat mir der Arzt gesagt. Ich konnte nicht mehr atmen, alles war schwarz. Ich hatte keine Schmerzen. Sterben ist gar nicht so schlimm.“ Angst vor dem Tod hatte der geborene Jude, getaufte Protestant und konvertierte Katholik, der sich selbst als Atheist bezeichnet, schon damals keine: „Es wird genauso sein wie vor der Geburt. Dieses absolute Verschwinden. Ich weiß genau, was ich fühle. Aber ich kann es nicht in Worte fassen.“
Für dreihundert Francs waren die beiden Brüder während des Zweiten Weltkriegs im Internat denunziert worden. Die Leiterin, nach deren Schlägen er sich vielleicht immer noch sehnt – wofür ihn Erich zutiefst verachtete –, hatte ihm daraufhin ein neues Versteck organisiert. „Auf dem Weg kamen mir zwei deutsche Soldaten mit einem Offizier in der Mitte entgegen, die Maschinenpistole auf mich gerichtet. Ich sehe das noch ganz genau vor mir. Die Angst ist derart groß, dass sie in der absoluten Objektivität verschwindet. Man weiß alles genauestens. Und man empfindet nichts.“ Er unterbricht seine Schilderung: „Eine komische Geschichte. Der junge Leutnant wich plötzlich aus, damit ich vorbeigehen konnte. Ich wurde dann ein Jahr lang von einem Bauern versteckt. Als ich zurückkam, erzählte mir die Direktorin, wie der Leutnant ins Haus gekommen war. Erich war aus dem Fenster gesprungen. Der Offizier hielt seine Hand in das Bett, es war noch warm. Er lächelte und ließ sich einen Tee servieren. Er hatte uns mit Absicht verschont.“
„Mehr als durch Hitler“
Mit seiner Verschonung ist Goldschmidt noch immer nicht fertig. Seine Bestimmung war die Ausmerzung – „zu Seife verarbeitet zu werden“, hat er einmal geschrieben. Als Überlebender blieb er „ein Schwarzfahrer des Schicksals“. Einen „weißen Neger“ nennt er sich in „Die Faust im Mund“: „schuld an seiner Unschuld“. Das Exil hat ihn davor gerettet, selbst ein Nazi zu werden: „Auch ich sang als kleiner Junge ihre Lieder. Ich höre mich noch: ,Die Juden schmeiß raus, eins . . . schmeiß raus‘.“ Goldschmidt wurde Schriftsteller.
Unerbittlicher als mit Heidegger und dessen französischen Propheten, mit unverbesserlichen Nazis und unbelehrbaren Rechtsextremisten geht er mit sich selbst ins Gericht. Mit keiner Zeile hat er dem Opferkult gehuldigt. Seine schonungslose Aufrichtigkeit kann mit Rousseaus autobiographischen Schriften „Bekenntnisse“ und den „Spaziergängen“ verglichen werden. Bezüglich der jeweiligen Bedeutung möchte man diesen Vergleich durchaus als Gleichsetzung verstanden wissen.
Ihre Eltern haben die Brüder nie mehr gesehen. Den „Roman des Bruders“ (unter dem Titel „Der versperrte Weg“ bei Wallstein erschienen) schrieb Goldschmidt auf Anregung seines deutschen Verlegers Thedel von Wallmoden. Bei unserem Besuch in Belleville hatte er noch nicht mit der Niederschrift begonnen. Aber die Thematik ließ ihn nicht los. Er hat sich ihr mit jedem neuen Buch gewidmet: „Meine Eltern wollten mich nicht – und durch mich ist mein Bruder zerstört worden. Mehr als durch Hitler.“