Zum 50. Todestag : Wie lesen wir heute Georg Lukács?
- -Aktualisiert am
Der ungarische marxistische Denker Georg Lukács 1911 Bild: Edit Hajós, Lukács-Archiv
Die Theorie der Verdinglichung wirft dem Kapitalismus vor, dass er etwas mit den Menschen macht, das sie entmenschlicht. Was bedeutet das für die Kunst im Digitalzeitalter?
Der ungarische marxistische Denker (und – sehr kurze Zeit – revolutionäre Politiker) Georg Lukács gilt als einer der Schöpfer der modernen Verdinglichungstheorie.
Die Gendertheoretikerin Judith Butler fasst den Gedanken dahinter zusammen: „Während nach Marx’ These der Kapitalismus die Menschen als Objekte und die Objekte wie Menschen behandelt, erweiterte Lukács diese Sicht des Warenfetischismus um die Erkenntnis, wie die Realität – im Zuge einer radikalen Umkehrung – zur ‚zweiten Natur‘ wird, sodass die Menschen unter diesen historischen Gegebenheiten die Realität systematisch verkennen.“ Diese Lesart des berühmten Verdinglichungskapitels im Essayband „Geschichte und Klassenbewusstsein“ (1923) von Lukács sollte unter Kennworten wie „Verblendungszusammenhang“ für das zwar marx-, aber nicht moskaunahe linksliberale Denken im Westen rhetorikleitend wirken, meist wie bei Butler als Bild eines Fluches, der „die Menschen“ ganz allgemein erfasst – aber eben damit ein bisschen anders als bei Lukács im Urtext.
Da geht es nämlich an entscheidenden Stellen um einen durchaus näher bestimmten, nicht abstrakt universellen „Menschen“ – den Lohnabhängigen nämlich, der, wenn er in den Warenkreislauf eintreten will, wo es alles gibt, was man braucht, seine Arbeitskraft verkaufen muss, die dergestalt eine Ware wird, was, so Lukács weiter, als „Zur-Ware-werden einer Funktion des Menschen“ – nämlich der geschichtsbildenden Potenz der Arbeit – „den entmenschten und den entmenschlichenden Charakter der Warenbeziehung in der größten Prägnanz“ offenbare.
Tauschwert frisst Gebrauchswert
Schlimm an dieser Verdinglichung – so ist das Wort also gedacht, als ökonomische Formbestimmung – ist für Lukács dialektischerweise, dass sie „den qualitativen und materiellen unmittelbaren Dingcharakter aller Dinge“ komplementär zur Verdinglichung des Nicht-Dings Arbeit gerade „verdecken“ hilft: In einem Messer oder einem Buch steckt zum Beispiel Arbeit, aber das Dingspezifische an ihnen, dass man also das eine zum Schneiden und das andere zum Lernen oder Sichvergnügen nutzen kann, wird vom Tausch aller Güter gegen alle andern, unter dessen Gesetz auch das Güterschaffen selbst steht, auf null gesetzt gegenüber dem gleichmacherischen Geld, wenn es etwa beide gleich viel kosten lässt. Tauschwert frisst so Gebrauchswert – wo es zum Beispiel keine zahlungskräftige Nachfrage für ein Gut gibt, wo es nicht bezahlt werden kann von denen, die es brauchen oder wollen, verhält sich die hier kritisierte Wirtschaftsweise, als gäbe es gar keine Nachfrage danach, und macht also bald auch kein Angebot mehr.
Ist die Kunst ein Gut, um dessen Bestand man sich in diesem Bild Sorgen machen muss? Auch über sie hat Lukács nachgedacht, unterm Kriterium, dass sie die Hervorbringung einer besonderen Sorte Ding sei, des Kunstwerks. Nach Kant ist das ästhetische Urteil das Wesen des Ästhetischen, aber Lukács fand, „dass das ästhetische Urteil keine Priorität besitze, sondern die Priorität komme dem Sein zu. ‚Es existieren Kunstwerke. Wie sind sie möglich?‘“
Menschen an ihre Fähigkeiten erinnern, die Welt zu ändern
Hier spricht eine medienhistorische Vergangenheit, die noch kaum ahnte, dass sie vergehen konnte. Ein Film mag als DVD eine Ware und damit ein Ding sein, aber was ist er als Stream, als Video-on-Demand? Was ist ein Buch als Datei, die mir, auch wenn ich bezahle, nicht als Papierhaufen gehört, ich darf sie nur lesen? Was ist ein Musikstück ohne Tonträger? Lukács sah im modernistischen Angriff auf den Werkbegriff „Dekadenz“, denn das Kunstwerk war ihm Ausdruck einer besseren, einer nützlichen Verdinglichung – es vergegenständlicht die Kunstarbeit, wie eine neugebaute Maschine Ingenieurs- und Montage-Arbeit vergegenständlicht, um künftige Arbeit zu ersparen. Im Kunstwerk werden Menschen an ihre Fähigkeit erinnert, die Welt zu ändern.
Wenn das Kunstwerk nun aber zur Dienstleistung per Klick umgewidmet wird und wenn diejenigen, die es konsumieren, mit dem Anklicken den Kulturindustriekonzernen die profitnotwendige Ausforschungsarbeit über ihre Präferenzen abnehmen, also zu Datensätzen werden, einer besonders handlichen, berechenbaren Sorte Ding – ist das nicht, fünfzig Jahre nach dem Tod von Georg Lukács, die böseste denkbare Pointe seiner Theorie?