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Zum Tod von Jacques Le Goff : Eigentlich war alles ganz anders

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Der Historiker am Schreibtisch - an dem auch Bücher für seine Enkelkinder entstanden: Jacques Le Goff (1924 - 2014). Bild: ddp images/HADJ/SIPA

Nichts liebte der berühmte Mediävist mehr, als die Komplexität seiner Gegenstände zu erhöhen: Der Historiker Jacques Le Goff ist im Alter von neunzig Jahren verstorben.

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          Wenn man sich die verblüffende Popularität aller das Mittelalter thematisierenden kulturellen Produkte, vom Taschenbuch zum Musical, vom Mittelaltermarkt zum Erlebnismuseum, in ganz Europa vergegenwärtigt und nach Gründen für die einzigartige Konjunktur dieses historischen Konglomerats sucht, wird man an Jacques Le Goff nicht vorbeikommen. Sein Werk erreicht auch jene, die seine große Biographie des heiligen Ludwig nie gelesen haben; und sein Ruf blieb auch von der bisweilen enttäuschenden Sorglosigkeit seiner vielen, manchmal hastig zusammengestellten Publikationen unberührt. Le Goff lud dazu ein, ihn mit allem zu behelligen, was mit dem europäischen Mittelalter, aber auch mit Geschichte überhaupt zu tun hatte.

          Kein Thema war zu entlegen, keine Fragestellung zu banal, als dass er nicht darauf eingestiegen wäre. Sein Fundus an Anekdoten, Lesefrüchten und Zitaten aus den Quellen war so beschaffen, dass immer etwas passte, nie erlebte man ihn sprach- oder lustlos. Doch er nutzte diese besondere Position eines weithin bekannten Gelehrten und >public intellectual< nicht, um sich eine akademische Machtbasis zu erreichten und zu verteidigen oder das Publikum mit Obskuritäten einzuschüchtern, sondern stellte sein Wissen und seine analytischen Fähigkeiten großzügig einem breiten Publikum zur Verfügung.

          Die Rolle der Mentalitäten

          Und dann brachte er den Lesern bei, Geschichte zu denken, sie selbst zu befragen. Es gibt bei ihm nicht das, weswegen so viele immer kamen, um etwas über Kontinuitäten und Diskontinuitäten zu hören, also ob wir noch viel vom Mittelalter in uns haben oder ob es vergessene mittelalterliche Traditionen gibt, auf die wir zurückgreifen könnten wie auf ein plötzlich wiederentdecktes Notizbuch mit Kochrezepten.

          Le Goff wies auf die Rolle der Mentalitäten hin, die die Weltwahrnehmung und die Urteilskraft regieren und es nahezu unmöglich machen, kühne historische Linien aufzuzeigen und zur Grundlage heutiger Ansprüche oder Forderungen zu machen. Obwohl er ein leidenschaftlicher Europäer war, der sehr viel zum Europa des Mittelalters publiziert hat, hütete sich Le Goff davor, aus den Gegebenheiten von damals im Sinne einer Lehre der Geschichte Empfehlungen für die Europäische Union unserer Zeit abzuleiten. Der Schüler des großen Georges Duby, der sich gern in die Tradition Marc Blochs stellte, schrieb schon 1977 von einem „anderen Mittelalter“, zu dessen Beschreibung er andere Quellen heranzog, also neben den Urkunden und institutionellen Dokumenten auch Zeugnisse aus den Bereichen der Literatur, der Kunst und der Archäologie.

          Mit Blick für historische Risiken

          Denn auch die mythischen Figuren, Themen und Schauplätze, die uns das Mittelalter überliefert, zeigen die Mannigfaltigkeit und die Heterodoxie einer Epoche, die zuvor oft und leichthin als wenig attraktives Gegenbild zum dann einsetzenden Fortschritt, zu Renaissance und Aufklärung karikiert wurde. Le Goff hingegen war der Historiker einer, um Habermas zu bemühen, „alten Unübersichtlichkeit“. Er schützte uns vor dem Hochmut, dank technischer Innovationen und hochmögender Wissenschaft ein besseres Urteilsvermögen zu pflegen als die Menschen des Mittelalters, und bewahrte jene andererseits vor der Karikatur, irgendwie weiser und wahrhaftiger oder aber unterbelichtet und böse gewesen zu sein.

          Le Goff liebte nichts mehr, als die Komplexität zu erhöhen, die intellektuellen Einsätze in der Diskussion immer weiter zu steigern, dies freilich in radikal gegenwärtiger Absicht. Als im letzten Winter die Nationalisten seines zweiten Vaterlands, der Bretagne, auf die Straße gingen, um gegen Präsident Hollande zu demonstrieren, da schrieb er in „Le Monde“ eine deutliche Parteinahme für den bedrängten Sozialisten. Le Goff war ein Mann, der das Risiko in der Geschichte studierte, der wissen wollte, wie die Menschen damals ihre Probleme lösten. Nicht, um daraus zu lernen, eher um sich wie ein Künstler davon inspirieren zu lassen.

          Auch im Privaten ging er nicht den leichtesten Weg, wie er uns in seinem 2008 erschienenen, anrührenden Buch „Avec Hanka“ über seine verstorbene Ehefrau erzählte. Le Goff hatte die polnische Wissenschaftlerin 1962, also auf dem Tiefpunkt des Kalten Kriegs, auf einer Dienstreise in Warschau kennengelernt und war viele Jahre damit beschäftigt, ihre Ausreise nach Frankreich zu bewerkstelligen. Obwohl er bislang jede autobiographische Arbeit abgelehnt hatte, schrieb er dieses Buch über die lang währende, innige Ehe, um die Zeit, die er mit seiner Frau verbringen konnte, in der literarischen Arbeit noch ein wenig zu verlängern.

          Seine ansteckende Freude am Leben machte auch die entlegensten Themen interessant, und sein Interesse war grenzenlos. Der aus bescheidenen, heute würde man sagen: bildungsfernen Kreisen stammende Le Goff wählte nicht den Weg der Anpassung oder gar der Überanpassung an die zu seiner Zeit noch so strikte akademische Welt, sondern suchte sich in moderner Manier eine Gruppe von mehr oder weniger Gleichgesinnten, ein Team, um die Wissenschaft so zu betreiben, wie er gern leben wollte, nicht umgekehrt.

          Er kam auf die akademischen Außenseiterposten seiner Zeit und machte sie zum neuen Zentrum. Mochten andere Kollegen im Betrieb mehr zu sagen haben und in der fundierenden Quellenedition glänzen – ihre Namen kannte niemand, während seiner in Frankreich synonym war mit „berühmter Historiker“. Nun ist Jacques Le Goff im Alter von neunzig Jahren verstorben, gegen alle Vernunft möchte man schreiben: zu früh.

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