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Zum Tod von Hilary Putnam : Was Theorien alles nicht sind

Scharfsinniger Beobachter der Theorie: Hilary Putnam Bild: Tania/A3/Contrasto /laif

Hilary Putnam war ein Meister im Auflösen falscher Unterscheidungen und einer der großen analytischen Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts. Jetzt ist er im Alter von 89 Jahren gestorben.

          3 Min.

          Philosophieren heißt begrifflich unterscheiden und zugleich von begrifflichen Unterscheidungen zeigen, weshalb sie nur bedingt brauchbar sind. Leib und Seele, Wollen und Erkennen, Subjekt und Objekt, Natur und Geschichte, Tatsachen und Werte - es gibt kaum eine Entgegensetzung, die nicht von Philosophen entwickelt und von anderen Philosophen wieder aufgelöst worden wäre.

          Jürgen Kaube
          Herausgeber.

          Ein Meister solcher Unterscheidungsauflösungen war Hilary Whitehall Putnam. Schon in einem seiner ersten großen Aufsätze, „What theories are not“ (Was Theorien nicht sind) von 1962, attackierte der amerikanische Philosoph die Vorstellung, dass Wissenschaft eine Kombination aus Sätzen über Beobachtungen mit Sätzen über theoretische Modelle ist. Wie Putnam ausführt, gibt es weder Worte, die sich ausschließlich auf Beobachtbares beziehen - selbst in Begriffe wie „rot“ oder „kleiner als“ gehen theoretische Entscheidungen vor „einem Hintergrund von Ideen“ ein -, noch ist der Bereich dessen, was nicht wahrgenommen werden kann, sondern erschlossen werden muss, deckungsgleich mit dem Bereich theoretischer Konzepte: „Zornig“ oder „Geliebte“ sind nicht schon deshalb Theoriebegriffe, weil sie mit keinen eindeutigen Wahrnehmungen korrespondieren: „Satellit“ hingegen ist ein theoretisches Konzept, und trotzdem kann man Satelliten beobachten.

          Die Bedeutung ist nicht im Kopf

          Schon hier hört man den philosophischen Realisten Putnam heraus, der zu keiner Zeit seines Lebens Geschmack an Zwei-Welten-Theorien und radikalen Konstruktivismen fand. Wenn Begriffe wie „Elementarteilchen“ oder „Virus“ verwendet werden, hat er einmal formuliert, dann deswegen, weil man anders schlecht über Elementarteilchen und Viren sprechen kann. Die Bedeutung der Worte ist nicht in den Köpfen und ist auch keine bloße Konvention, sondern liegt in der Wirklichkeit.

          Und die Wirklichkeit ist kein Aggregat von Messdaten. Würde aus der Wissenschaft alles weggelassen, heißt es in einem anderen Aufsatz von 1965, was man nicht mit bloßem Auge - und man kann ergänzen: oder einer anderen Apparatur - feststellen kann, würde man praktisch alles weglassen, was zu ihr gehört. Später sprach Putnam von „kognitiven Werturteilen“, ohne die keine Forschung möglich sei: Kohärenz, Einfachheit, Vorhersagekraft. Und also sind auch scharfe Unterscheidungen zwischen Sein und Sollen unbrauchbar.

          Entscheidungen liefern die Gründe

          Diese pragmatische Sicht auf den Erkenntnisgewinn, die ihn mehr als soziale Praxis denn als Technologie betrachtet, wurde in einem intellektuellen Milieu entwickelt, das, wie er selbst zuweilen, mitunter zur Gleichsetzung von Erkenntnis und Naturwissenschaft neigte. Geboren 1926 in Chicago als Sohn eines kommunistischen Publizisten, der „Don Quijote“ ins Englische übersetzte, und zunächst aufgewachsen in Frankreich, studierte Putnam Mitte der vierziger Jahre Mathematik und Philosophie in Philadelphia, Cambridge (Massachusetts) und Los Angeles; zuletzt bei Rudolf Carnap und Hans Reichenbach. Seine Doktorarbeit befasste sich mit Wahrscheinlichkeitstheorie. Von 1965 an lehrte Putnam fünfunddreißig Jahre lang an der Harvard University, seit den Siebzigern auf einem Lehrstuhl für Mathematik und mathematische Logik.

          Das Werk, das in dieser Zeit entstand, ist umfangreich und vielfältig: Putnam schrieb zur Wissenschaftstheorie und zu mathematischen Beweisen, er veröffentlichte zur Erkenntnistheorie und zur Sprachphilosophie, zum Begriff der Wahrheit, zur Künstlichen Intelligenz und zur Ethik. Auch Ökonomen hätten von ihm lernen können - zum Beispiel, dass Entscheiden und die Wahl zwischen Alternativen nicht immer dasselbe ist. Denn es gebe Entscheidungen, die vernünftigerweise nicht so fallen, dass gute Gründe erst gesammelt und dann abgewogen werden, sondern die Gründe, mit denen wir unsere Entscheidungen von Gewicht rechtfertigen, entstehen für Putnam erst dann, wenn wir uns entscheiden müssen.

          Es ist dieser differenzierende und sich in Revisionen gängiger Ansichten bewegende Stil, der mehr zu Aufsätzen als zu Büchern passte, den Putnam pflegte. Revisionsbereit war er dabei auch in Bezug auf eigene Argumente. Die Vorstellung, das menschliche Erkennen und Wahrnehmen funktionieren ähnlich wie ein Rechner, hat er zuerst zu einer ganzen Theorie des „Geistes“ ausgearbeitet, später dann aber ebenso verworfen wie seine Anhänglichkeit an die amerikanische Arbeiterpartei. Dafür traten im Alter Motive seiner und seiner Frau jüdischen Herkunft auch in seinen Schriften mitunter deutlicher hervor. Es dürfte nicht viele analytische Philosophen geben, die auch zu Franz Rosenzweig und Emmanuel Levinas publiziert haben.

          Putnams immenser Einfluss auf seine philosophischen Zeitgenossen verdankt sich also dem Gegenteil einer stabilen Lehrmeinung und keiner Schulgründung. Gebäude waren nicht seine Sache. Ihm war es wichtiger, in Argumenten vertretbare Schrittfolgen zu skizzieren, als einen Weg „konsequent“ bis zum Ende zu gehen. Nicht einmal aus dem Pragmatismus mochte er, anders als Richard Rorty, mit dem ihn in der Kritik an engem szientifischem Denken und Mythen der Erkenntnistheorie viel verband, ein Dogma machen. Er zog es vor, von Schwierigkeiten zu berichten. Das häufigste Wort in den Titeln seiner Publikationen und Aufsatzsammlungen ist „Wirklichkeit“. Im Alter von 89 Jahren ist Hilary Whitehall Putnam am vergangenen Sonntag gestorben.

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