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Widersprüchliche Erwartungen : Das Amt, die Würde und der Boulevard

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Heute sollen Amtsträger beides sein: ganz nah und über alle erhöht zugleich

Heute sollen Amtsträger beides sein: ganz nah und über alle erhöht zugleich Bild: dpa

Wie passt Verehrung zu Kontrolle? Wir erwarten von Trägern höchster Ämter sowohl Autorität wie die vollständige Transparenz ihres Handelns.

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          Die Macht der einen beruht auf den Bedürfnissen der anderen: Der eine hat, was der andere braucht, und das verleiht dem einen Macht über den anderen. Der Soziologe Heinrich Popitz hat den Begriff der autoritativen Macht geprägt: Sie beruht auf dem allgemeinen menschlichen Bedürfnis nach Orientierung, Anerkennung, sozialer Geltung. Dem Repräsentanten eines Kollektivs wird Autorität zugewiesen, damit er all das verkörpert, was die Identität einer Gruppe ausmacht. Ihm schreibt man das zu, was man selbst darstellen möchte; ihm erweist man den Respekt, den man dadurch umgekehrt als Mitglied der Gruppe selbst genießt. In ihm spiegelt sich die Gruppe in ihrem Bedürfnis nach Anerkennung - Anerkennung gemeinsamer Werte, Tugenden, Normen und Weltdeutungen.

          In den meisten Gesellschaften ist solche Autorität institutionalisiert in einem höchsten Amt. Auf das Bedürfnis der Gruppe nach Autorität gründet sich das Charisma dieses Amtes. Es wird gewöhnlich dem Alltäglichen entrückt und mit Symbolen und Ritualen umgeben, die die individuelle Person des Trägers transzendieren. Wenn sich alle in öffentlichen Ritualen wechselseitig zu Zeugen ihrer Verehrung des Amtsträgers machen, so hat das eine kollektiv ansteckende Wirkung: Feierliche Akte der Amtsausübung bewirken, was sie darstellen: die Autorität des Amtsträgers.

          Strenge Kontrolle öffentlicher Wirkung

          „Was ich an den Königen verehre, ist eigentlich der große Haufe ihrer Verehrer“, schreibt Montaigne. Das macht die Autorität des Amtes zu einem gewissen Grad von der persönlichen Qualität ihres Inhabers unabhängig, ja das Amt verwandelt in einer Art sozialer Magie die Person des Inhabers in der Wahrnehmung der anderen. „Es genügt, eine Person als mit Amt und Würden ausgestattet zu sehen: auch wenn wir sie drei Tage zuvor noch als einen unscheinbaren Menschen erlebt haben, wird unsere Meinung jetzt unversehens durch eine Vorstellung von Größe und Tauglichkeit gefärbt, und wir reden uns ein, dass mit zunehmendem Prunk und Einfluss auch er selbst an Vortrefflichkeit zugenommen habe. Wir beurteilen ihn nicht nach seinem Wert, sondern, wie es bei Spielmarken üblich ist, nach dem Rang der von ihm besetzten Stelle. Reißt aber die Glückssträhne ab, so dass er abstürzt und wieder untertaucht in der Masse, dann fragt sich jeder erstaunt, wieso er nur so hoch habe hinaufsteigen können?“ Darauf beruht die Stabilität institutioneller Ordnungen, die dauerhafter sein sollen als die schwankenden Befindlichkeiten individueller Menschen.

          Das funktionierte in vormodernen Gesellschaften deshalb besser, weil die Träger hoher Ämter mit sakraler Aura umgeben und der Masse der Untertanen räumlich und sozial entrückt waren. Ihre Auftritte wurden sorgsam in traditionellen Formen inszeniert; nichts blieb dem Zufall überlassen. Ihre öffentliche Wirkung ließ sich in hohem Maße kontrollieren. So gering die effektive instrumentelle Macht vormoderner Kaiser und Könige gewesen sein mag - ihre autoritative Macht war groß. Am Papsttum lässt sich das bis heute selbst in einer weitgehend säkularisierten Umwelt anschaulich nachvollziehen.

          Sie wollen ihn auch anbeten können

          In modernen demokratischen Rechtsstaaten ist das anders. Wir sind stolz auf die Kontrollfunktion der kritischen Öffentlichkeit. Das Problem ist nur: An unserem Bedürfnis nach autoritativer Macht als Grundlage kollektiver Anerkennung hat sich nicht viel geändert.

          Das führt uns in Aporien, wie wir sie derzeit erleben: Wir wollen einen höchsten Amtsträger, der unsere kollektiven Werte, unser positives nationales Selbstbild repräsentiert. Gerade deshalb, weil wir selbst laufend gegen Werte wie Aufrichtigkeit, Unbestechlichkeit, Eindeutigkeit verstoßen, brauchen wir einen Repräsentanten, der sie verkörpert, damit wir unseren Glauben an diese Werte und an uns selbst, der alltäglichen Evidenz zum Trotz, aufrechterhalten können. Montaigne, um ihn ein letztes Mal zu zitieren, sah darin den Grund für den „Brauch mancher Völker, die den aus ihrer Mitte erwählten König für heilig erklären und erst zufrieden sind, wenn sie den, dem sie ihre Verehrung darbringen, auch anbeten können“.

          Was wir derzeit erleben

          Wir erwarten heute aber zugleich die totale Transparenz des individuellen Amtsträgers; wir wollen ihn in jeden Winkel seines Alltagslebens verfolgen. Der Amtsträger soll beides sein: wie wir alle und zugleich besser als wir alle, ganz nah und über alle erhöht zugleich.

          Die Massenmedien leisten beides: Sie können den Amtsträger sakralisieren, und sie können ihn wieder entzaubern. Diese doppelte Macht verleihen wir selbst ihnen durch unsere widerstreitenden Bedürfnisse: das Verlangen nach Verehrung einer Autorität einerseits und den Anspruch auf lückenlose demokratische Kontrolle andererseits. Mit einer Art lustvollem Schauder beobachten wir, wie die Medien einen Amtsinhaber, über dessen Durchschnittlichkeit nie ein Zweifel bestand, in seiner ganzen Mittelmäßigkeit vorführen (selbst die Affären sind von höchst mittelmäßigem Format) und beklagen zugleich mit einem gerüttelten Maß an Heuchelei, dass die Würde des Amtes verlorengeht. Derzeit erleben wir, was geschieht, wenn die zwei widerstreitenden kollektiven Bedürfnisse - nach Alltäglichkeit und Transparenz, aber zugleich nach Außeralltäglichkeit und Autorität - gleichermaßen befriedigt werden sollen: die totale Macht des Boulevards.

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