Der Sound des Jahrhunderts : Als der Lärm den Laut verschluckte
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Hitlers Rundfunkdebüt am 1. Februar 1933 war akustisch ein Reinfall: Seine Stimme habe „kasernenhofartig, unsympathisch und gar nicht deutsch geklungen“ Bild: Archiv
Vom mechanischen Klappern zum elektronischen Fiepen: Das zwanzigste Jahrhundert erlebte akustische Zäsuren wie keine Zeit zuvor. Was war der charakteristische Sound des Jahrhunderts?
Das Ohr hört anders, als das Auge sieht. Nach einer verbreiteten (und etwas vereinfachten) Anschauung gilt der Blick als sinnliches Vollzugsorgan des Intellekts, der die Reize der Außenwelt rational filtert, während das Gehör ein Organ des Inneren ist, ein direkter Draht zum unbewussten, mythischen Erleben. Gleichzeitig ist der Klang mehr als seine sinnliche Gestalt. Lag es an seiner schwachen Stimme, dass Bismarck das Parlament verachtete? Hätte Hitler ohne Lautsprecher den NS-Staat schaffen können?
Eine akustische Bilanz des zwanzigsten Jahrhunderts steht vor einem breiten Spektrum: Sie hat es mit subtilen politisch konnotierten Geräuschen zu tun wie dem verräterischen Knacken in der Leitung der DDR-Telefone, mit nationalen Erweckungsrufen wie dem Berner Torjubel, mit zwinkernden Markensounds wie dem „Da da da di damm“ der Telekom oder den gravitätischen Fanfarenstößen der „Tagesschau“. Manches kommt neu hinzu wie das Klacken von High Heels. Anderes kommt und geht, wie das Kratzen der Platte, das Hämmern der Tasten, das Rauschen im Telefon. Drittes verwandelt sich: Das Telefon wurde zunächst vor allem zum Musikhören verwendet.
Nach Marshall McLuhan wird die Post-Gutenberg-Galaxis nicht mehr von der rationalen Ordnung des Buches, sondern vom Verschmelzen mit dem audiovisuellen Ambiente bestimmt sein. Es ist also keine Themenverlegenheit, dass die Geschichtswissenschaft die Soundgeschichte für sich entdeckt hat. Sound meint nicht Musik, sondern alle akustischen Phänomene, gleich ob harmonischer oder disharmonischer Schwingung. Quellenbedingt beginnt die Soundgeschichte erst richtig mit der Aufzeichnung des Klangs durch Edisons Phonographen, also 1876.
Es gibt kein Nebengeräusch
Seit der Industrialisierung ist sie vor allem ein Übergang vom natürlichen zum technischen Klang, von unwiederbringlichen zu reproduzierbaren Geräuschen. Ein künstlicher Klangteppich legt sich über die Welt. In der ersten Jahrhunderthälfte wird er allgemein, durch Lautsprecher und Radios, im zweiten zieht er sich über Walkman und Smartphone teilweise zurück in Privatkosmen.
Poststrukturalistisch orientiert, mied die Soundgeschichte bisher klare Zäsuren um den Preis, ein diffuses Feld zu hinterlassen. Die grobe Orientierung stiftete die Unterscheidung des kanadischen Komponisten und Klangforschers R. Murray Schafer zwischen einer distinkten HiFi-Soundscape der vorindustriellen Welt und einer flächigen Lofi-Kulisse der industrialisierten, in der das einzelne Geräusch in einem breiten Klangteppich versinkt. Auch sie ist wegen ihres kulturkritischen Akzents umstritten.
Mit dem Kompendium „Sound des Jahrhunderts. Geräusche, Töne, Stimmen - 1889 bis heute“ (Bonn 2013) haben die Herausgeber Gerhard Paul und Ralph Schock jetzt erstmals eine Synthese vorgelegt, die, abgesehen vom kataloghaften Layout, kaum genug zu loben ist. Das akustische Geschehen ist entlang politischer Etappen gegliedert: von der Jahrhundertwende über die Roaring Twenties, die Weltkriege, den Sound des Kalten Krieges bis zu den digitalen Klanglandschaften. In kurzen, pointiert geschriebenen Essays, die nah an der Kultur-, der Musik-, der Mediengeschichte oder einer akustisch akzentuierten Politikgeschichte bleiben, wird das Jahrhundert dicht erschlossen. Klang erscheint oft, aber nicht ausschließlich, als Vehikel von Politik und Ideologie. Das spezifisch Akustische zu präparieren gelingt den Beiträgen unterschiedlich gut. Selten ist es aber reines Nebengeräusch.
Der Klang der Großstadt und der Kriege
Das Buch bestimmt die Jahrhundertwende als Sattelzeit, in der sich mit dem Umbruch vom natürlichen zum technischen Klang ein radikaler Sinneswandel vollzog. Die Trennung von der physischen Quelle und die separate Speicherung erlaubten es, Klänge differenzierter zu erfahren. Außerdem wird es lauter. Der 1880 einsetzende Autoverkehr war 1907 schon laut genug für den Markterfolg von Ohropax. Der im Jahrhundertverlauf kontinuierlich steigende Lärmpegel lässt sich an der zunehmenden Dezibelstärke der Sirenen erkennen, die eine steigende Geräuschkulisse übertönen mussten. In der ersten Dekade wird Lärm zum öffentlichen Ärgernis. Lärmvereine entstehen. Als Feind der verfeinerten Wahrnehmung gilt er aber schon länger. Lärmempfindlichkeit ist auch ein Intellektuellenprivileg.