Neues Max-Planck-Institut : Die DNA der Geschichte
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Dabei tritt die Genetic History mit dem harten Evidenzanspruch der Naturwissenschaften auf. So hebt der Oxforder Genetikprofessor und -unternehmer Brian Sykes in seinem Buch über die Herkunft der britischen Bevölkerung, „Blood of the Isles“ (2006), die Unverfälschtheit und Unmittelbarkeit seiner DNA-Quellen gegenüber jenen der Historiker hervor, deren Informationsgehalt er als „aus dritter Hand“ charakterisiert. Die Genetic History hingegen sei keine Geschichte, die „durch verblassende Handschriften“ erzählt werde, sondern eine „living history“, die den direkten Bezug zwischen den Völkern und ihrer Geschichte garantiere.
Mit Westeuropa verbunden
Auch der Libanese Pierre Zalloua begründet das Ziel seiner historisch-genetischen Untersuchungen zu den Bevölkerungsgruppen seiner Heimat damit, endlich einmal „etwas Wissenschaft (science) in die Geschichtsschreibung (history) dieses Landes einzuführen“. Bemerkenswert ist übrigens die Konsequenz, mit der Zalloua, selbst maronitischer Christ, in seinen Studien den phönizischen Ursprung der christlichen Konfessionen des Libanon und die Herkunft der muslimischen Gruppen von der Arabischen Halbinsel „beweist“. Im Ergebnis seiner Studien stellen sich die Konfessionen des Libanon als a priori ethnische Gruppen dar, von denen die einen autochthon und einer frühen Hochkultur und zugleich Westeuropa verbunden sind, die anderen aber die Nachkömmlinge späterer, barbarischer Einwanderer. Dies entspricht, welch Zufall, genau der Geschichtsideologie der militanten maronitischen Phalangisten-Bewegung.
Die Verbindung von Geschichte und Genetik ist nichts grundsätzlich Neues und auch keine Einbahnstraße, sondern eine Verflechtung. Es war bekanntlich gerade der Kern der Evolutionslehre Darwins und seiner Zeitgenossen im 19. Jahrhundert, die Natur als geschichtlich gewordene zu lesen, und die Erweiterung dieses naturgeschichtlichen Verständnisses auf die menschliche Kultur ließ nicht lange auf sich warten. Evolutionsmetaphern, allen voran „Entwicklung“ selbst, durchdrangen rasch fachhistorische Texte, und die verhängnisvolle Geschichte des Sozialdarwinismus ist bekannt. Umgekehrt suchte bereits die serologische Genetik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach „History in the Blood“ (Fraser Roberts). So sollten etwa anhand der Verteilung der verschiedenen Blutgruppen auf den Britischen Inseln Regionen mit hohem Anteil von Wikingernachkommen identifiziert werden, oder bei den Juden des römischen Gettos deren tausendjährige Isolation von den umwohnenden Christen genetisch nachvollzogen werden.
Zugang zur Evolutionsgeschichte
In den 1960er Jahren löste die DNA das Blut als Untersuchungsobjekt ab. Damals definierten der amerikanische Chemiker Linus Pauling und der aus Österreich stammende Biologe Emile Zuckerkandl die DNA und ähnliche Moleküle als informationstragende „Semantiden“ und erklärten sie zum besten Zugang zur Evolutionsgeschichte - besser als die bis dahin verwendeten Fossilien. Gleichzeitig wurde die Idee von der „molekularen Uhr“ entwickelt, also der Berechenbarkeit der zeitlichen Tiefe von genetischer Ausdifferenzierung aufgrund von statistischen Annahmen über Mutationshäufigkeiten. Auf der Grundlage dieser „molekularen Anthropologie“ trieb in den 1970er und 1980er Jahren der von paläoanthropologischer Neugier getriebene italienische Populationsgenetiker Luigi Luca Cavalli-Sforza die Analyse der genetischen Diversität der Menschen als „Fenster in die Vergangenheit“ voran. Zugleich propagierte Cavalli-Sforza stets auch die Idee der kulturellen Evolution.