Literatur rechnen : Lektüre im Computerzeitalter
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Vom Lesen zum Rechnen der Literatur Bild: picture-alliance/ ZB
Literaturwissenschaftler müssten heute Millionen von Büchern lesen, um auf dem Stand der Forschung zu bleiben. An ihrer Stelle durchforsten Computer Millionen von Werken und finden unbekannte Muster heraus. Über den Paradigmenwechsel vom Lesen zum Rechnen der Literatur.
Literatur ist zum Lesen da, denkt man, zum gründlichen Lesen zumal, gerade wenn es sich um gute Literatur handelt. Für das gründliche Lesen hat der amerikanische Dichter, Literatur- und Agrartheoretiker John Crown Ransom 1937 in seinem Essay „Criticism, Inc.“ die eingängige Formel vom close reading gefunden. „Dichtes Lesen“ meint die detaillierte Analyse der Worte, syntaktischen Verbindungen und semantischen Vieldeutigkeiten Satz für Satz, Absatz für Absatz. Virtuosen im Fach wie Jacques Derrida bringen es mit dieser Methode des gründlichen Lesens schon einmal auf achtzig Seiten, um nur das Wort „yes“ in James Joyces Roman „Ulysses“ zu interpretieren.
Das Verfahren des dichten, textnahen Lesens ist wohl fast so alt wie das Lesen von Literatur. Schon in der Apostelgeschichte, im achten Kapitel, wird berichtet, wie Philippus den äthiopischen Kämmerer zum Christentum bekehrt, indem er ihm einen Abschnitt aus dem Buch Jesaja auslegt. Mehr als diesen einen Abschnitt gründlich ausgelegt zu haben scheint es nicht gebraucht zu haben, um von der neuen Wahrheit des Christentums zu überzeugen. Man sieht: Literatur, besonders heilige Literatur, braucht gründliche Leser. Sie führt zur Wahrheit.
Vom Lesen zum Rechnen
Dass man Literatur auch rechnen kann, muss vor dem Hintergrund dieser Tradition geradezu als Häresie erscheinen. Und doch geht es derzeit um diesen öffentlich wenig wahrgenommenen Paradigmenwechsel vom Lesen zum Rechnen der Literatur. Das ist viel für geisteswissenschaftliche Fächer wie die Literaturwissenschaft, die sich oft genug eher unter die Künste denn unter die Wissenschaften zählt. Die mit der Literatur rechnen, argumentieren für ihr Unterfangen wie Franco Moretti im Jahr 2000 in einem Beitrag für die „New Left Review“. Dort überlegte er, wie überhaupt eine Geschichte der Weltliteratur geschrieben werden könne. Niemand kann alles lesen, schon gar nicht in allen Sprachen. Immer mehr lesen sei zwar gut, aber kaum die Lösung für den Literaturhistoriker, der wie der Komparatist Moretti eine Geschichte der Weltliteratur schreiben will.
„Literaturgeschichte“, so Moretti, „wird bald schon etwas anderes sein als das, was sie jetzt ist. Sie wird eine Literaturgeschichte aus zweiter Hand werden, ein Patchwork aus der Forschung anderer ohne eine einzelne direkte Textlektüre. Das ist ein ambitioniertes Unternehmen - und derzeit mehr denn je; aber die Ambition ist jetzt direkt proportional zum Abstand vom Text. Je ambitionierter das Projekt ist, desto größer muss der Abstand sein.“ Distant reading statt close reading ist das Stichwort, mit dem Moretti und nicht nur er eine ganze Tradition literaturwissenschaftlichen Arbeitens auf den Kopf stellt oder auf die Füße und dafür plädiert, viel, viel mehr Bücher in den Blick zu nehmen. Denn das „distanzierte Lesen“ der sehr vielen Texte rückt auch alle diejenige Literatur wieder in den Blick des Faches, die es geradezu notorisch vernachlässigt hat, die nicht nur bildungsbürgerlich beglaubigte Literatur jenseits des Kanons, die dem Fach Literaturwissenschaft über die Pflege des seltenen Sinns verlorengegangen ist. Wie aber kann man dieses Meer erkunden, wenn die Menge der Bücher jede Lesezeit übersteigt?