Pionier der Begriffsgeschichte : Die Sprache ist immer die letzte Zuflucht
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Das Menetekel als Heilszeichen: Rembrandts Gemälde des Gastmahls des Belsazar von 1635 hängt in der National Gallery in London. Bild: Wikimedia
Der Talmudforscher Lazar Gulkowitsch, der 1941 ermordet wurde, fand den Schlüssel zur Geschichte im Wandel des Wortschatzes. Die jüdische Geschichte der Begriffsgeschichte wird wiederentdeckt.
Wer hat die erste Monographie verfasst, die titelgebend die begriffsgeschichtliche Methode untersucht? Selbst Fachleute wissen kaum, dass dieses Privileg Lazar Gulkowitsch und seiner 1937 in Tartu (Estland) erschienenen „Grundlegung einer begriffsgeschichtlichen Methode in der Sprachwissenschaft“ zukommt. Gulkowitsch machte die Begriffsgeschichte zur universalistischen Metatheorie der Geistesgeschichte als Kulturgeschichte. Der ehrgeizige Versuch, im Kampffeld der dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts eine Begriffsgeschichte der jüdischen Geschichte zu entwerfen, kam aber auch zu Ergebnissen, die mit Begriffsgeschichte im heutigen Verständnis nur wenig gemein haben.
Gulkowitsch, 1899 in Weißrussland geboren, besuchte die Talmudschule in Minsk. In Königsberg studierte er Altes Testament, Philosophie und Medizin. Nach einer philosophischen Promotion zur Kabbala lehrte er seit 1924 an der Theologischen Fakultät Leipzig. Seine Stelle verdankte sich dem Freistaat Sachsen, der, besorgt um den Gegensatz zwischen zugewanderten, meist chassidischen Ostjuden und liberalen Juden, Untersuchungen zum Judentum förderte. 1925 habilitierte er sich für die Wissenschaft des späten Judentums. Als deutscher Staatsbürger und außerordentlicher Professor ist Gulkowitsch ein seltener Fall: In nur neun Jahren erlangte ein ostjüdischer Talmudschüler die beinahe höchsten Weihen einer deutschen Universität.
Die Tradition der Leipziger Schule
Gulkowitsch erforschte in der Tradition der Leipziger Religionswissenschaften die nachbiblische Religionsgeschichte philologisch. In Studien zur Bildung von Abstraktbegriffen in der hebräischen Sprachgeschichte entwickelte er die These, dass Veränderungen der Wort- und der Begriffsebene zusammenhängen und die Begrifflichkeit für Religionsgesetze, Moral und Literatur aus der Alltagssprache erwächst.
Nach dem Entzug der Lehrerlaubnis und der Ausbürgerung hatte Gulkowitsch das Glück, in Tartu einen – in Europa einzigartigen – Lehrstuhl für jüdische Studien zu übernehmen. Für ihn begannen produktive sechs Jahre, in denen er die meisten seiner Schriften veröffentlichte, fast alle in Deutsch: zur Begriffsgeschichte des Chassidismus oder zu Maimonides. Gulkowitsch wurde international durchaus wahrgenommen, es gibt Briefwechsel mit dem Ethnologen Franz Boas und mit Martin Buber. Er hielt Gastvorträge an der Columbia-Universität, in Uppsala und Cambridge. Der Einmarsch der Roten Armee im August 1940 beendete mit der estnischen Unabhängigkeit auch die Arbeit des Seminars. Ein Jahr später rückte die Wehrmacht ein, der Einundvierzigjährige wurde mit seiner Familie und zusammen mit etwa achthundert anderen Juden ermordet. Nach dem Krieg wurde Gulkowitsch vergessen.
Notwendige Konsequenz aus der jeweiligen Situation
Gulkowitsch übertrug begriffsgeschichtliche Ansätze der Philosophie auf die Geistesgeschichte des Judentums. Als Gegenstand der Begriffsgeschichte bestimmte er Sprachtypen und Nationalkulturen, denen er die Anlage zur organischen, intrinsischen Entwicklung zuschrieb. „Wir behaupten, dass es eine Geschichte außerhalb der Geschichte von Begriffen gar nicht gibt, dass alles historische Geschehen notwendige Konsequenz aus der jeweiligen Situation der Begriffsgeschichte ist.“ Sprach-, Geistes-, Kultur- und Begriffsgeschichte sind verschiedene Seiten eines Prozesses. Begriffe sind geschichts- und gemeinschaftsbildend sowie wirklichkeitskonstituierend. Eine so zentrale Position von Sprache und Begriffen vermutet man wohl erst in Gadamers „Wahrheit und Methode“.