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: Künstler, erziehe nicht

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Die Diskussion um einen Bildungs- und Erziehungsnotstand in Deutschland hat nun auch, angeregt von Bestsellern wie Bernhard Buebs Streitschrift "Lob der Disziplin", die Wissenschaft erreicht. Literaturwissenschaftliche ...

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          Die Diskussion um einen Bildungs- und Erziehungsnotstand in Deutschland hat nun auch, angeregt von Bestsellern wie Bernhard Buebs Streitschrift "Lob der Disziplin", die Wissenschaft erreicht. Literaturwissenschaftliche Studien greifen nun die Erziehungsprogramme zweier Dichter auf: Friedrich Schiller (Jürgen Brokoff, "Die Unvereinbarkeit von Erziehung und ästhetischer Erziehung in Schillers Briefen ,Über die ästhetische Erziehung des Menschen'", Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, Bd. 50, Wallstein Verlag, Göttingen, 2006) und Gottfried Benn (Antje Büssgen, "Glaubensverlust und Kunstautonomie. Über die ästhetische Erziehung bei Friedrich Schiller und Gottfried Benn", Universitätsverlag Winter, Heidelberg, 2006). Benn ist bisher unter dem erzieherischen Aspekt und in Verbindung mit Schiller noch so gut wie gar nicht wahrgenommen worden.

          Schiller schrieb seine Briefe über die ästhetische Erziehung angesichts von Chaos und Barbarei während der Französischen Revolution und baute darauf, über die Kunst den zerrissenen Menschen in eine geordnete, wieder humanisierte, in eine "ganze" Sphäre zurückzuführen. Benn dagegen hatte sich mit den Folgeerscheinungen der handlungsunfähig gewordenen Weimarer Republik auseinanderzusetzen. In der Machtübernahme der Nationalsozialisten sah er vorübergehend die Chance für eine grundlegende Neuordnung, die jedoch bald - anders als ihm das in den Jahren 1933/34 vorschwebte - zu organisierter Barbarei und Terror wurde.

          Es sollte die Kunst sein - darin stimmen Schiller und Benn überein -, die einen Ausweg ermöglichen und einen Ansatz bieten sollte, um das Problem des im Dilemma von Freiheit und Zwang gefangenen Menschen zu lösen. Beide Dichter wussten, dass die Frage, vor der sie standen, so alt war wie die Kultur: Schon im Neuen Testament, im Gleichnis vom Sämann (Matthäus 13, 1 bis 30), steht, dass jeder erfolgreichen Erziehung etwas vorausgehen, dass ihr der Boden bereitet werden muss. Die Frucht ist nicht allein vom Samen abhängig, die Saat kann nur aufgehen, wenn sie auf "gutes", fruchtbar gemachtes Land fällt. Schiller wollte mit Hilfe der Schönheit der Kunst den Menschen formbar und also erziehbar machen. Durch Kunst in ästhetische Stimmung versetzt, könne der Mensch frei von vorangegangner Bestimmung werden. Erst unter dieser Voraussetzung sei eine Neuorientierung, eine Selbstbestimmung möglich. Um im Gleichnis zu bleiben: Erst wenn der Acker gepflügt ist, kann der Sämann an die Aussaat denken, an Ernte noch lange nicht.

          Wenn des Erziehungsrätsels Lösung so einfach wäre, wenn Erziehung erst dann überhaupt fruchten kann, wenn der brachliegende Boden durch Kunstgenuss beackert wurde, könnte man dem widerborstigen Kind einfach ein gutes Buch in die Hand drücken, wenn die Gegensätze in der Familie, die Differenz zwischen kindlichem Wunsch sich zu entfalten und der beschränkenden elterlichem Formung zu groß geworden sind. Dann schlägt die Stunde der ästhetischen Stimmung.

          Schiller ist natürlich auch für Bernhard Bueb eine Referenzfigur, wenn er sich der Aufwertung des Spieltriebs anschließt. Das "Spiel als zweckfreie Tätigkeit" erlaube, so Bueb, die "spielerische Einübung von Freiheit". Warum diese Tätigkeit zweckfrei sein soll, wo sie doch der Einübung von Freiheit dient, also eben doch einen Zweck verfolgt, bleibt offen. Bueb nimmt den Spielgedanken jedenfalls auf, weil es ihm dabei um die Regeln geht, die jedes Spiel beherrschen - und die für ihre Befolgung nötige Disziplin. Bekanntlich macht er die antiautoritäre Phase, in deren Nachwehen wir uns noch befinden, dafür verantwortlich, dass Erziehung nicht nur nicht fruchtet, sondern dass es im Grunde gar keine Erziehung mehr gibt. Wir sind, erklärt Bueb, eine "Nation der Nicht-Erzieher".

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