Dankesrede zum Börne-Preis : Wie man die Gegenwart erfasst
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Ein Meinungskampf, mit Waffen ausgetragen, dafür in Pastell gezeichnet: Ansichten der Julirevolution 1830 in Paris von H. Géron et A. Rossignol, um 1950. Bild: Imago
Wie soll der Journalismus in Zeiten des digitalen Überangebots mit Neuigkeiten umgehen? Dankesrede anlässlich der Verleihung des Ludwig-Börne-Preises.
Wo kommen eigentlich die vielen Neuigkeiten her? Das Erstaunen Karl Valentins darüber, dass in der Welt immer genau so viel passiert, wie auf eine Zeitungsseite passt, ist zwar veraltet. Denn wenn die Weltgeschehnisse im Internet stehen, gibt es keinen unteren Seitenrand mehr, der sie begrenzen könnte. Darum vermittelt das Netz umso stärker den Eindruck, dass es in jeder Sekunde und vierundzwanzig Stunden am Tag Neuigkeiten gibt.
Aber es bleibt die Frage, wie es überhaupt kommt, dass ständig so viel Neues geschieht. Eine gängige Antwort lautet: Die moderne Gesellschaft sei eben so produktiv, krisenhaft und überraschend. Früher, würde man dann schließen müssen, passierte einfach nicht so viel. Heute hingegen ist ständig alles im Wandel. Darum gibt es dauernd Neuigkeiten.
Viel ist geblieben, wie es war
Diese Antwort ist nicht völlig falsch. Sie lässt aber weg, was die Massenmedien, von denen wir wissen, dass so viel passiert, ihrerseits weglassen. Nämlich am liebsten all das, was sich gleich bleibt oder sich kaum ändert. Wie oft ist beispielsweise nach dem 9. November 1989 und nach dem 11. September 2001 nicht der Satz gedruckt worden „Nichts wird mehr so sein, wie es war“? Alles würde sich nun ändern. Und doch ist selbstverständlich ziemlich viel so geblieben, wie es war. Manche sagen: das meiste. Was dann seinerseits als Nachricht mitgeteilt werden kann. Es gibt sogar Forschungen darüber, wie viel an der amerikanischen Sicherheitspolitik sich nach dem 11. September tatsächlich geändert hat. Ihr Ergebnis ist: im Wesentlichen wenig.
Der Eindruck, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der sich ständig alles ändert und zwar mitteilenswerterweise, ist insofern das Ergebnis einer stark selektiven Beschreibung dieser Welt. Mitunter hört man diese Selektivität einzelnen Formulierungen an. Denken Sie an Wendungen wie solche aus dem Jahr 2009 zurück, dass wir uns in der größten Finanzkrise seit Wirtschaftsgedenken befinden, aber Licht am Ende des Tunnels zu sehen sei. Beides in einem Satz zu sagen heißt nichts anderes, als die Krise und die Nichtkrise im selben historischen Moment unterzubringen.
Die bestimmende Kraft des Wandels
Wir leben also in einer Gesellschaft, die eine Präferenz für Diskontinuität zu haben scheint. Es gibt so viele Neuigkeiten, weil wir uns auf vielen Gebieten mit einer Art Angstlust auf das konzentrieren, was sich gerade ändert. Woher kommt diese Präferenz für Unruhe, Wandel, Neuigkeit? In der Frühneuzeit hieß es: Der Mensch als solcher sei rastlos, unzufrieden, langweile sich schnell. „Then most troublesome, when he is most at ease“ (am verdrossensten dann, wenn er nichts zu tun hat), heißt es vom Menschen bei Thomas Hobbes. Entsprechend wurden damals alle zivilisatorischen Errungenschaften als Mittel aufgefasst, die menschliche Unruhe zu bekämpfen.
Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts ändert sich das. Die Gegenwart als solche und ihr ständiger Übergang zu einer neuen, anderen Gegenwart gewinnt für die Beschreibung der Wirklichkeit an Bedeutung. Man kann das gut an dem Wort „Zeitgeist“ illustrieren, das sich damals in der deutschen Sprache rasch verbreitet. Es wird zu einer Vokabel für die bestimmende Kraft des historischen Wandels und dringt Ende des neunzehnten Jahrhunderts als eines der wenigen deutschen Worte sogar ins Englische ein.