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Kolloquium mit Dieter Grimm : Das soll ich gewesen sein? Mittler der Ideen von 1968?

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Wie es zu einer Sakralisierung der Verfassung kommen kann: Blick auf die Roben der Richter des Ersten Senats im Bundesverfassungsgericht. Bild: dpa

Dieter Grimm hält nicht viel von Erzählungen, egal ob er die Heldenrolle spielt oder die Verfassung: Ein Bielefelder Kolloquium ehrt ihn. Dabei wurde auch diskutiert, ob es zu einer Übernutzung der Verfassung gekommen ist.

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          Werden Bundeswehrsoldaten beleidigt, wenn Kurt Tucholsky mit den Worten zitiert wird: „Soldaten sind Mörder“? Im Jahre 1994 befand das Bundesverfassungsgericht, dass das nicht der Fall sei und das Zitat eine zulässige Meinungsäußerung darstelle. Der Beschluss einer mit drei Richtern besetzten Kammer des Ersten Senats fiel in den beginnenden Bundestagswahlkampf des Jahres und löste in der Öffentlichkeit scharfen Protest aus. Berichterstatter war Dieter Grimm, der dem Gericht von 1987 bis 1999 angehörte. Er sah sich genötigt, öffentlich zu der Entscheidung Stellung zu nehmen; ein ungewöhnlicher Vorgang, der dem ungewöhnlichen Echo auf das Urteil geschuldet war. „Damit“, erklärt Grimm rückblickend, „hatte die Entscheidung einen Namen und ein Gesicht.“ In der „Tagesschau“ hatte er gesagt: „Ich glaube, dass diejenigen, die jetzt aufgeregt sind, insofern zu unsensibel waren, als sie ihre Aufregung wahrscheinlich vor der Lektüre der Entscheidung geäußert haben. Ich denke, wenn man die Entscheidungsgründe liest, wird davon keine Rede mehr sein können.“

          Nach dem Fernsehauftritt brach eine Briefflut über Grimm herein, es gab Beleidigungen und sogar Morddrohungen. Von der vielzitierten integrativen und identitätsstiftenden Funktion der Verfassung war in diesem Moment wohl nicht allzu viel zu spüren. Und doch blieb das Vertrauen in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in der Geschichte der Bundesrepublik kontinuierlich hoch – das zumindest legte der Dresdner Politikwissenschaftler Hans Vorländer im Autorenkolloquium für und mit Dieter Grimm dar, das anlässlich von dessen achtzigstem Geburtstag am Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) veranstaltet wurde. Von 1979 bis 1999 hatte Grimm an der Universität Bielefeld einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht inne. Das Kolloquium umspannte ein weites Thema: „Verfassung: Geschichte, Gegenwart, Zukunft“. Doch der Titel versprach nicht zu viel. Die Autorenkolloquien des ZiF sind eine Bielefelder Erfindung: Ein Gelehrter wird mit Vorträgen über die Aspekte seines Werks konfrontiert und nimmt dazu Stellung.

          Abneigung gegen alles Narrative

          Wie steht es um die Verfasstheit der Verfassung in der Grimmschen Übersetzung – oder vielmehr um ihre Interpretation und Rezeption durch die anwesenden Referenten? Er habe eine Abneigung gegen alles Narrative, sagte Grimm: „Ich möchte schon die Gewissheit haben, dass ich etwas Gültiges produziere.“ Gültigkeit hatte in den Diskussionen sein dreidimensionaler Normbegriff, der auf den Text, den Zweck und die soziale Wirklichkeit der Norm Bezug nimmt. Er weist in das Feld definitorischer Aspekte der Verfassung, das mit Begriffen der Verrechtlichung von Herrschaft, der Herrschaftsbegrenzung, der Anerkennung, Legitimität und wechselseitigen Kommunikation umschrieben wurde.

          Die Verfassung, darin schienen sich alle einig zu sein, ist nichts Abgeschlossenes, sie ist dynamisch, ein „Kunstwerk“, wie der einstige Präsident des spanischen Verfassungsgerichts Pedro Cruz Villalón bemerkte, das den Staat begleitet, wohin es ihn auch bewegt. Ein Paradox trat hervor: Verfassungsbestimmungen lassen sich im Vergleich zu „einfachen“ Gesetzen nur unter erschwerten Bedingungen ändern, aber aufs Ganze gesehen, ist Verfassung nicht ohne Wandel zu denken. Dass ein Verfassungsrechtslehrer wie Grimm Bleibendes hervorbringen will, fängt so gesehen womöglich Erwartungen auf, die von der Verfassung selbst enttäuscht werden müssen. Dass es auch ein Zuviel an Verfassung geben kann, zeigen Wendungen wie die von einer „Sakralisierung der Verfassung“ (Michael Stolleis) oder die Kritik an einer „Richter-Demokratie“. Doch wie viel Verfassung braucht eine Demokratie überhaupt?

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