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Gehirnforschung : Das Gehirn bricht sich unaufhaltsam Bahn

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Mensch und Maschine: Zusammenarbeit, um das Gehirn zu erforschen

Mensch und Maschine: Zusammenarbeit, um das Gehirn zu erforschen Bild:

Es ist schon so, wie der Professor sagt: Im Londoner Ideeninstitut erklären die Neurologen den Künstlern die Kreativität.

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          Neurowissenschaftler erforschen das Nervensystem, Künstler schaffen Kunstwerke. Doch Neurowissenschaftler versuchen auch zu enträtseln, welche Rolle dem Gehirn bei der Entstehung von Kunst zukommt. Im künstlerischen Schaffensprozeß liegt also die Schnittstelle der verschiedenen Disziplinen.

          Daß manche Künstler dieser Idee nicht unbedingt positiv gegenüberstehen, ist kaum verwunderlich, versuchen doch die Wissenschaftler ein Phänomen wie Kreativität zu sezieren, es mit elektrischen Signalen und der Aktivierung bestimmter Bereiche im Gehirn zu erklären.

          Kreativität bei Mensch und Maschine

          Um beide Seiten zu einem Gespräch zusammenzubringen, hat das Londoner "Institute of Ideas" nun Künstler und Wissenschaftler zu einer Abendveranstaltung über "Kunst und Bewußtsein" zusammengebracht. Veranstaltungsort war das "Dana Centre", ein von mehreren Stiftungen und dem Science Museum geschaffenes Veranstaltungszentrum für eine eher lockere Begegnung von Öffentlichkeit und Wissenschaft. Ein von der "Laban Dance Company" und der Neurowissenschaftlerin Sarah-Jayne Blakemore gestalteter Workshop befaßte sich mit der Frage, auf welche Weise Tanz Emotionen beeinflußt und wie Bewegungen die Gehirnaktivität stimulieren.

          Musiker des New London Orchestra erklärten und demonstrierten ihre kollektiven Lernprozesse - wie sie ein Musikstück einstudieren und es interpretieren. Margaret Boden von der Universität Sussex leitete eine Diskussion über Kreativität bei Mensch und Maschine. Bei einer Podiumsdiskussion nahmen Künstler und Wissenschaftler zu den zentralen Fragen Stellung: "Was ist eigentlich Kreativität, und woher kommt sie?" "Welchen Einfluß haben historische Ereignisse, die Gesellschaft und soziale Faktoren auf Kreativität?"

          Evolutionäre Mechanismen

          In einigen Punkten waren sich beide Seiten überraschend einig. Kreativität ist demnach das Produkt eines langen evolutionären Prozesses. In ihrer primitivsten Form ist sie die Fähigkeit, aus Chaos Ordnung zu schaffen, vorhandene Informationen zu verarbeiten, einzuschätzen und daraus ein Verhaltensmuster zu entwickeln, um eine noch nie erfahrene Situation zu meistern. Hängt das Überleben des Individuums von der Beherrschung der unbekannten Situation ab, so ist diese ursprüngliche Kreativität ein erheblicher Selektionsvorteil. Die sich auf den Erfolg einstellende Befriedigung führt dann dazu, daß man immer öfter Situationen sucht, in denen sich Kreativität entfalten kann.

          Auch wie Zuschauer Kunst erleben, ist teilweise auf evolutionär adaptierte Mechanismen zurückzuführen. So sind beispielsweise beim Tanz im Gehirn des Zuschauers genau die gleichen Areale aktiviert wie im Gehirn des Tänzers. Der Zuschauer lebt den Tanz mit, sein Gehirn spiegelt die Emotionen wider, die auf der Bühne dargestellt werden. Auf diese Weise versucht das Gehirn Bewegungen vorherzusehen, um Gefahren frühzeitig zu erkennen und im Notfall schnell reagieren zu können.

          Unterschiedliche Meinungen

          Bei der Frage, ob Kreativität und Genie nicht viel zu komplex sind, um sie mit den Methoden der Neurobiologie erforschen zu können, gingen die Meinungen von Künstlern und Wissenschaftlern jedoch stark auseinander. Janet Eilber, künstlerische Direktorin der "Martha Graham Dance Company" in New York, und der Komponist Piers Hellawell argumentierten, daß man Kreativität nur im größeren Gesamtkontext verstehen könne. Frau Eilber ging so weit, die Bedeutung neurobiologischer Studien auf diesem Gebiet ganz zu leugnen. "Die Gehirnforschung wird keinen Aufschluß über die Art und Weise geben, wie Künstler ihre Werke erschaffen." Künstler beachteten Gehirnforscher einfach nicht. Wenn ein bestimmter Teil des Gehirns während des kreativen Prozesses aufleuchte - "na und, wen kümmert das schon?" sagte sie.

          Die Wissenschaftler wiesen unermüdlich darauf hin, daß die Neurobiologie helfen werde, Kreativität zu verstehen. Der Physiker und Wissenschaftsautor Joe Kaplinsky gab aber zu, daß die bisherigen Methoden nicht ausreichen. "Das Aufleuchten eines einzelnen Neurons im Gehirnscan sagt nicht besonders viel aus", sagte er.

          Obsessiv kreativ

          Der Neurophysiologe Mark Lythgoe berichtete von dem ehemaligen Bauarbeiter Tommy McHugh. Dieser verließ die Schule mit 14, hatte Drogenprobleme und war nicht im mindesten an Kunst interessiert. Mit 51 Jahren, im Januar 2001, erlitt er einen Gehirnschlag, verursacht durch zwei kleine Gerinnsel auf beiden Seiten des Gehirns. Der Schaden konnte operativ beseitigt werden, so daß er keinerlei physische Gebrechen davontrug. Seitdem ist Tommy McHugh aber ein anderer Mensch.

          Das Interesse an Drogen sowie die frühere Neigung zur Gewalttätigkeit sind völlig verschwunden, aber er ist obsessiv kreativ. Er schreibt Gedichte, schafft Skulpturen, malt und zeichnet, oft zehn oder mehr Stunden pro Tag, ohne zu merken, wie die Zeit vergeht. Einige seiner Werke sind sogar schon in Ausstellungen gezeigt worden. Daß eine Beschädigung des Gehirngewebes zu einer Persönlichkeitsänderung führen kann, ist nicht verwunderlich. Woher kommt aber diese plötzliche Freisetzung kreativer Energie und das von einem Menschen, der in künstlerischer Hinsicht keinerlei Vorbildung hat?

          Stimulierend oder inhibierend

          Lythgoe und seine Kollegen erklären dieses Phänomen mit Disinhibition. Im gesamten Nervensystem sind die einzelnen Neuronen durch Hunderttausende kleiner Verbindungen, Synapsen genannt, miteinander vernetzt. Diese Synapsen können entweder stimulierend oder inhibierend auf die Nervenzelle wirken, an die sie Informationen weiterleiten. In McHughs Fall denken die Wissenschaftler, daß durch den Schlaganfall gerade genug der inhibierenden Verbindungen im Gehirn beschädigt worden sind, so daß sich seine zuvor unterdrückte Kreativität entfalten konnte.

          Steckt also in jedem von uns ein vom eigenen Hirn verhinderter Künstler, oder handelt es sich bei Tommy und ähnlichen Fällen um Ausnahmen? Um diese Frage beantworten zu können, wird noch viel Forschung nötig sein. Im Moment beginnt die Neurowissenschaft gerade zu verstehen, wie das Gehirn Informationen verarbeitet und speichert. Wie es diese Informationen dann aber nutzt, um neue Ideen hervorzubringen, und welche Teile des Gehirns dafür zuständig sind, ist derzeit noch ein Rätsel.

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