Gaucks Freiheitsbegriff : Bürgerliche Ermächtigung
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Was bleibt unter Gauck von der „bunten Republik“, wie sie sein Vorgänger forcieren wollte? Bild: AFP
Seit Gauck mit der Freiheitsidee von Helmuth Plessner durch die Lande reist, fesselt er sein Publikum. Die Linken teilen sein Faible bei weitem nicht.
Den richtigen redaktionellen Riecher hatte im Januar das Magazin „alverde“. Es hob Joachim Gauck auf den Titel und brachte unter der Überschrift „Beglückendes Freiheitserlebnis“ ein großes Interview mit ihm. „Wir müssen lernen“, so Gauck in diesem Interview, „dass wir immer eine Wahl im Leben haben. Vielleicht nicht immer jede Wahl, aber immer eine.“ Gauck ist Plessnerianer, und Helmuth Plessner, der große Anthropologe der Freiheit, hätte sich wohl nicht träumen lassen, seine Idee der „exzentrischen Positionalität“ (nicht zu verwechseln mit dem Gezicke des Exzentrischen) einmal in der Kundenzeitschrift einer Drogeriekette bestätigt zu bekommen. „alverde“, die Hauspostille des dm-Marktes, ist freilich kein Schlecker-Pamphlet, nach ihrem Selbstverständnis steht sie wie die Farbe Grün, verde, „für aufmerksame Wahrnehmung und begriffliche Differenzierung“. Gauck präzisiert Plessner in „alverde“ mit den Worten: „Je genauer wir die alten Zeiten anschauen, Verrat oder Treue, den Versuch tapfer zu sein, oder den Versuch, Alternativen zu leben, desto mehr vermögen wir zu glauben, dass wir eine Wahl haben.“
Seit Gauck mit der Freiheitsidee durch die Lande reist, sie in Vorträgen, Büchern und nun auch an der Drogeriekasse vertreibt, fesselt er sein Publikum. „Man muss nur die Gesichter beobachten, wenn die Fernsehkameras über sein Publikum schweifen“, schwärmte gestern der Historiker Hans-Ulrich Wehler im Deutschlandradio und nannte Gauck einen „Glücksfall für die Bundesrepublik“. Frau Merkels Widerstand sei zu erwarten gewesen, „denn mit Gauck kommt ein ostdeutscher Politiker an die Spitze des Staates, der ihr rhetorisch und was Eloquenz angeht, überlegen ist, und er wird seine Zuhörer finden“.
Eine neoliberale Ermächtigungsfloskel
Aber so homogen, wie Wehler das Publikum wahrnimmt, ist es nicht. Für eher obskur halten die Zuhörer der Linken Gaucks Freiheitsfaible. Was seinerzeit in der DDR politische Sprengkraft besaß - die Botschaft von Freiheit und Verantwortung -, sei heute eine neoliberale Ermächtigungsfloskel, eine Apologie des „Finanzkapitalismus“, wie Gesine Lötzsch gestern noch einmal erklärte. In diesem Zusammenhang hält man Gauck vor, mit seinem Verantwortungsbegriff die Empowerment-Strategien der Wirtschaft zu unterfüttern. Auch wenn Gauck es ausdrücklich vermeidet, von Empowerment zu sprechen, und statt dessen zu dem Wort „Ermächtigung“ greift: „Ich benutze dieses Wort ganz bewusst, obwohl mir sozialwissenschaftlich geschulte Intellektuelle manchmal geraten haben: Sagen Sie wenigstens ,Empowerment‘!“, schreibt Gauck in seinem neuen Büchlein „Freiheit. Ein Plädoyer“ (Kösel). Er bestehe auf dem deutschen Wort, weil er „auf Deutsch“ erlebt habe, „wie sich ein Staatsinsasse verwandelt hat und durch ermächtigendes Handeln als Bürger zu existieren begann“.
„Ein schönes Stück Europa“
Ob das wiederum heißt, die Bürgerbeteiligung vorantreiben, Partizipation im Sinne einer „aktiven demokratischen Teilhabe“ fördern zu wollen, wie es Wehler vom künftigen Bundespräsidenten erwartet? Ein Blick ins Drogeriemagazin dämpft zumindest Erwartungen an eine Umgestaltung der Demokratie hin zu mehr plebiszitären Elementen. Gauck, den Atomausstieg und Stuttgart 21 vor Augen, nutzt die Plattform von „alverde“ zur begrifflichen Differenzierung: „Wir haben in den letzten Jahren viel über Bürgermitwirkung durch plebiszitäre Elemente wie Volksbefragungen und Volksentscheide geredet. Man sollte es versuchen. Man muss sich nicht so sehr vor einer Bevölkerung fürchten, die mitreden will. Ich möchte aber auch daran erinnern, dass Deutschland mit seiner repräsentativen Demokratie, also der Abgabe der Verantwortung an gewählte Vertreter, ganz gut gefahren ist. Das ist ein schönes Stück Europa geworden, das wir mit dieser Demokratie gestaltet haben. Deshalb wäre die Einladung an der Mitwirkung dieser repräsentativen Demokratie für mich immer noch stärker zu betonen als die Schaffung neuer Mitwirkungsmöglichkeiten. Diese will ich nicht völlig ausschließen, sehe sie aber nicht als Allheilmittel.“ Das ist dann doch eher ein Aufruf, wählen zu gehen, statt sich auf den Straßen der Berliner Republik als das Volk auszurufen.
Und was bleibt unter Gauck von der „bunten Republik“, wie sie sein Vorgänger forcieren wollte? Wehler, wie Gauck ein differenzierter Deuter von Sarrazins Begriffen, hält die Integration nicht für ein Top-Thema des neuen Bundespräsidenten. Tatsächlich fällt der Ausfall des Integrations-Themas ins Auge, wenn man sich jüngste Publikationen wie das Freiheitsbuch oder „alverde“ anschaut. Im Buch kommt der Islam nur im Zusammenhang mit den Menschenrechten vor, die es gegenüber ihren auswärtigen Feinden zu schützen gelte: „gegenüber kommunistischen, fanatisch-islamistischen oder despotischen Staaten“. Aber wer wollte Gaucks Antrittsrede vorgreifen?