Fußballmuseum: Fundstück 2 : Sportkamerad Morlock im Goldrand
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Sakramentaler Moment: Vor dem WM-Endspiel von Bern am 4. Juli 1954 ließ sich der Stürmer Max Morlock in der Kulisse von Spiez am Thuner See fotografieren. Später schenkte er das Bild seinem Trainer Sepp Herberger. Warum?
Neunundzwanzig Jahre alt war Max Morlock, der Nationalspieler aus Nürnberg in der zu groß geschneiderten Ausgangskluft mit dem Wappen des Deutschen Fußball-Bunds, als er sich in Spiez fotografieren ließ, am Ufer des Thuner Sees, eine halbe Autostunde von Bern. Für unsere Augen wirkt er älter und etwas unsicher auch, wie er dort auf der frisch gemähten Wiese steht und nicht weiß, wohin er mit den Händen soll – in aller Bescheidenheit aber auch stolz erscheint. Morlock steht im Garten des Hotels Belvedere, in dem seine Mannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft 1954 einquartiert war, deren Endspiel sie am 4. Juli sensationell mit 3:2 gegen Ungarn gewann. Morlock hatte nach einem frühen 0:2-Rückstand das Anschlusstor geschossen. Das Belvedere gehörte dem Schweizer Metzgerverband, der im Parterre eine Fachschule unterhielt, weshalb die deutschen Offiziellen im zweiten und die Spieler in Doppelzimmern im dritten Stock wohnten.
Zwei Wochen lang, bis zum 19. Juli, als die Mannschaft in der Hauptstadt Bonn mit dem „Silbernen Lorbeer“ geehrt wurde, feierte die junge Bundesrepublik ihre Helden, ohne noch zu verstehen, dass die kollektive Freude neun Jahre nach dem Ende des Weltkriegs auch ein erstes Etappenziel auf dem Rückweg zu internationalem Ansehen markierte. Nur vier Tage später, am 23. Juli, widmete Max Morlock in Schön- und Druckschrift sein Spiezer Foto dem Bundestrainer Sepp Herberger „In aufrichtiger Freundschaft u. Dankbarkeit“ – um es dann wohl in einem goldbemalten Holzrahmen an Herbergers Adresse in Weinheim an der Bergstrasse zu schicken.
Morlock war ein schneller, torgefährlicher und (in der Fußballsprache von damals) „dribbelstarker Halbstürmer,“ einer der wenigen unterbezahlten deutschen „Vertragsspieler“, auf den Proficlubs im Ausland aufmerksam wurden, obwohl er von der Jugend an und bis zu seinem letzten Spiel am Ende der ersten Bundesligasaison 1963/64 dem 1. FC Nürnberg – von den Anhängern „Club“ oder fränkisch „Glubb“ genannt – die Treue gehalten hat. Die Geste des Geschenks an den Trainer aber und auch die Widmungs-Worte wirken so linkisch – und dabei so sympathisch – wie seine Gestalt auf dem Foto aus Spiez. Was sollte Herberger mit dem Bild eines Spielers anfangen, den er Jahre lang regelmäßig und während der jüngsten zwei Monate täglich auf Lehrgängen, Reisen, im Training und bei Spielen gesehen hatte? Und war es nicht unangemessen, gegenüber der Trainer-Autorität „Freundschaft“ und zugleich „Dankbarkeit“ zum Ausdruck zu bringen?
Doch vielleicht machten gerade solche Asymmetrien das besondere Klima im Hotel Belvedere aus, wie es später als Grundlage des sensationellen Erfolgs der Nationalmannschaft gedeutet und als „Geist von Spiez“ legendär wurde. Kein Wort taucht in den Memoiren von Max Morlock („Maxl Morlock erzählt“, 1955) und Kapitän Fritz Walter („3:2 – Das Spiel ist aus!“, 1954), aber auch in Jürgen Leinemanns Biographie „Sepp Herberger: ein Leben, eine Legende“ (1997) so häufig auf wie „Kameradschaft,“ ein heute aus der deutschen Sprache verschwindender Begriff für „Freundschaft“, der eine männerbündische, militärische und in anderen europäischen Sprachen auch eine sozialistische Konnotation hatte.
Max Morlock wie Fritz Walter erinnerten sich mit Schrecken daran, wie sie während der letzten Kriegstage nicht mehr mit Kameradschaft unter deutschen Soldaten hatten rechnen können. Umso größer war wenige Jahre später die Begeisterung über die Kameradschaft im Kreis der Nationalspieler. Als einen „Freund“ oder „Kameraden“ sahen die Spieler auch ihren Trainer, aber sie redeten ihn doch mit „Sie“ an, nannten ihn respektvoll den „Chef“ und hätten jene Worte wohl nie in seiner Gegenwart gebraucht – mit nur einer, am ehesten „sakramental“ zu nennenden Ausnahme: In der Kabine des Berner Wankdorfstadions brach Fritz Walter nach dem Sieg über Ungarn mit der Mannschaft in ein „dreifaches Hipp-Hipp-Hurra der Dankbarkeit auf den Freund Sepp Herberger“ aus.
Morlocks Widmung könnte also – bewusst oder unbewusst – ein Zitat jenes Moments gewesen sein, in dem sich die Asymmetrien des Geists von Spiez verkörpert hatten. Denn der Trainer hielt sich zwar an die Verhaltensform eines Kameraden, Fritz Walter etwa berichtet, dass er nie explizit Verbote aussprach – doch das Klima wurde rasch prekär, wenn ein Spieler die ebenso deutlichen wie impliziten Erwartungen des „Chefs“ nicht erfüllten.
So hatte eine traditionelle Form männlichen Zusammenlebens die tiefste Diskontinuität der deutschen Geschichte überlebt und war – nicht nur im Fußball – zur Grundlage jenes „Wunders“ an Tüchtigkeit geworden, aus der eine neue Gesellschaft entstand. 1954 war es noch eine Bedingung dieser Tüchtigkeit, sich nur selten auf den Krieg und nie auf den Nationalsozialismus zu beziehen. Max Morlock kam wohl aus dem sozialistischen Arbeitermilieu. Aber er hätte nie daran gedacht, Herberger auf dessen Mitgliedschaft in der NSDAP seit Mai 1933 anzusprechen.
Im Gegenteil, es war Morlock, der bei Herberger später in Ungnade fiel: Als Fußball-Konservativer hatte er den Trainer nach der Chile-WM von 1962, bei der Deutschland im Viertelfinale ausschied, wegen der Berücksichtigung von Spielern kritisiert, die im Ausland Profis waren. Bei Herbergers Beerdigung am 5. Mai 1977 jedoch war er einer der sechs Helden, die den Sarg trugen. Am 10. September 1994 starb Max Morlock, noch nicht siebzig Jahre alt – in Nürnberg natürlich.