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Fußballmuseum: Fundstück 4 : Beschreibung eines möglichen Mordes

Das Signalwort dieses Stasi-Dokuments steht in der vorletzten Zeile: „verblitzen“. Und dahinter: „Eigendorf“ Bild: Fußballmuseum

„Verblitzen“: Es war die Staatssicherheit der DDR, die diesen Begriff in die deutsche Sprache einführte. Das Wort zum Mord bezog sich auf den in den Westen geflohenen Fußballer Lutz Eigendorf, dessen Tod bis heute ungeklärt ist.

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          Es gibt zwei markante Momente der deutsch-deutschen Fußballgeschichte. Jürgen Sparwassers Tor in der 77. Minute zum Hamburger 1:0-Sieg der DDR über die Bundesrepublik am 22. Juni 1974 bei der Fußballweltmeisterschaft - und den tödlichen Autounfall von Lutz Eigendorf spätabends am 5. März 1983 auf der Straße vom Flughafen Braunschweig nach Braunschweig-Bienrode. Beim ersten Ereignis sahen Millionen Menschen vor den Fernsehern zu, für das zweite gibt es keine Zeugen. Zumindest keine, die aussagen wollen.

          Andreas Platthaus
          Verantwortlicher Redakteur für Literatur und literarisches Leben.

          Eigendorf war damals 26 Jahre alt und spielte seit einem Jahr für Eintracht Braunschweig. Geboren aber wurde er 1956 in der DDR, und dort galt er als eines der vielversprechendsten Mittelfeld-Talente. Am 21. März 1979 nutzte er ein Freundschaftsspiel seines Ost-Berliner Vereins BFC Dynamo beim westdeutschen 1. FC Kaiserslautern zur Flucht: Bei einer Pause auf der Busrückfahrt in die DDR setzte sich der Nationalspieler Eigendorf in Gießen ab und heuerte kurz danach als Spieler in Kaiserslautern an.

          Dauerbeschattung bis zum Tode

          Zwei Umstände machten diese zweitspektakulärste Flucht des Jahres 1979 - im September gelang zwei Familien in einem Heißluftballon die Fahrt über die deutsch-deutsche Grenze - so besonders: Eigendorf ließ seine Frau, die zweijährige Tochter und seine Eltern in Ost-Berlin zurück, zudem hatte er in der DDR dem Lieblingsverein des Stasi-Chefs Erich Mielke angehört, ja, Dynamo Berlin war der Stasi-Club schlechthin und Mielke sein Ehrenvorsitzender. Deshalb sorgte er nach der Flucht Lutz Eigendorfs auch persönlich dafür, dass auf den Spieler und dessen Angehörige zahlreiche Spitzel angesetzt wurden. Unbedingt zu verhindern war, dass die Familie je wieder zusammenkam. Als 1976 die beiden DDR-Fußballer Jürgen Pahl und Norbert Nachtweih in den Westen geflohen waren, hatte die Stasi keinen vergleichbaren Aufwand getrieben, aber die beiden waren ja auch nur für den Hallischen FC aufgelaufen.

          Bild: F.A.Z.

          Auf Eigendorfs Gattin wurde ein „Romeo“ angesetzt, ein Stasi-Agent, in den sich die verlassene junge Frau verlieben sollte, damit sie sich von ihrem Mann scheiden ließ. Das geschah schon nach zweieinhalb Monaten. Eigendorf selbst blieb bis zu seinem Tod unter Dauerbeschattung durch im Westen agierende DDR-Agenten; in den Stasi-Unterlagen zu seiner Observation, soweit sie erhalten sind, wird er meist nur „der Verräter“ genannt.

          Das Blenden eines Autofahrers

          Doch sechs Monate nach dem tödlichen Unfall wurde sein Name in einem handschriftlichen Konvolut der Stasi erwähnt, das sich den Wirkungsweisen von chemischen Substanzen auf den menschlichen Körper widmet. Blatt 22 trägt die Überschrift „für Personengefährdung“, darunter steht der Eintrag „Gifte / Gase - welche, wie, wo?“, und weiter unten folgt: „z.B. ,E.‘ -> was im Raum führt langfristig zum Tode?“. Dass „E.“ für Eigendorf steht, wird plausibel durch die volle Namensnennung im Eintrag darunter: „Unfallstatistiken? von außen ohnmächtig? ,verblitzen‘, Eigendorf“.

          Das Unfallauto von Lutz Eigendorf auf einem Schrottplatz
          Das Unfallauto von Lutz Eigendorf auf einem Schrottplatz : Bild: dpa

          Wer diese Notizen gemacht hat und was sie genau besagen, ist immer noch unklar. Erstmals publiziert wurde das aus dem Bestand der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen stammende Dokument am 22. März 2000 in einer Fernsehdokumentation der ARD; wenig später brachte deren Autor, Heribert Schwan, ein ganzes Buch dazu heraus: „Tod dem Verräter! - Der lange Arm der Stasi und der Fall Lutz Eigendorf“. Darin war das Blatt faksimiliert zu lesen. Vom 25. Oktober an wird man nun im Deutschen Fußballmuseum das Original betrachten können, als Leihgabe der Jahn-Behörde.

          Dreihundert abgefangene Briefe

          Das Wort „verblitzen“ wurde dadurch in den deutschen Sprachgebrauch eingeführt. Es bezeichnet die Blendung eines Autofahrers, damit er die Kontrolle über sein Fahrzeug verliert. Mag sein, dass genau so Eigendorf in den Tod getrieben wurde. Schwans Vermutung, die sich mangels Bereitschaft der vielen mittlerweile namentlich bekannten Spitzel, in der Sache Eigendorf auszusagen, nicht beweisen lässt, lautet, dass man den Spieler, der bis 22 Uhr noch mit Freunden zusammengesessen hatte, danach in seinem Auto überfallen, mit Alkohol abgefüllt (ein Bluttest ergab 2,2 Promille) und eventuell noch unter Betäubungsmittel gesetzt habe, ehe man ihn im eigenen Wagen bewusst flüchten ließ, um ihn dann an einer unfallträchtigen Stelle zu verblitzen.

          Das Auto rammte kurz nach 23 Uhr einen Baum; was in der Stunde zuvor geschah, ist nie aufgeklärt worden. Lutz Eigendorf starb zwei Tage später an seinen schweren Verletzungen, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. In der DDR hatte Mielke schon in den Jahren zuvor dafür gesorgt, dass nichts mehr an den Spieler erinnern konnte: Mannschaftsfotos und Fan-Artikel des BFC Dynamo, die Eigendorf zeigten, wurden vernichtet, Briefe, die aus der DDR an ihn im Westen adressiert waren, abgefangen, insgesamt waren das mehr als dreihundert. Unabhängig davon, ob Lutz Eigendorf Opfer eines Mordkomplotts wurde, ist es nur zu begrüßen, dass Mielkes Ziel einer damnatio memoriae durch die Präsentation des gespenstischen Stasi-Dokuments im Dortmunder Museum auch künftig verhindert wird.

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