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Alzheimer-Patientin tanzt : Mit den Muskeln hören

  • -Aktualisiert am

Intimer Augenblick: Marta C. Gonzalez hört „Schwanensee“. Bild: Picture-Alliance

Rückreise ins Ich: Das Video einer Alzheimer-Patientin und früheren Ballerina, die beim Hören von „Schwanensee“ in das Glück ihrer früheren tänzerischen Existenz versetzt wird, wirft Fragen auf.

          3 Min.

          Im Internet geht seit einigen Tagen ein Video von etwas mehr als sechzig Sekunden viral. Die Frau, die darin zu sehen ist, heißt Marta C. González. Das Video ist im Frühjahr 2019 entstanden, und im Laufe des vergangenen Jahres ist die frühere Tänzerin gestorben. Sie litt an Alzheimer und saß im Rollstuhl. In dem Video wirkt sie sehr zart und sehr weltabgewandt. Ihr sorgfältig frisiertes Haar ist weiß, ihre Haut sehr hell, von Falten, dunklen Stellen und Äderchen durchzogen, ihre Finger sind schlank. Ein bärtiger junger Mann nähert sich ihr, indem er ihr einen Kopfhörer aufsetzt. Ein Auszug aus Peter Tschaikowskys Musik zu „Schwanensee“ brandet auf. Zunächst reagiert die alte Frau nur so, dass sie noch tiefer in sich hineinzuhören scheint. Der freundliche Mann küsst ihr die Hand, eine Geste der Verehrung. Wortlos und liebevoll wünscht er ihr, dass die Musik sie erreicht, sie in Verbindung zu ihrem früheren Selbst als Tänzerin treten lässt, ihr hilft, ihr Ich zu spüren, das mehr und mehr im Vergessen versinkt. Was dann kommt, ist in Ballettsälen und Dokumentarfilmen der Tanzwelt oft zu sehen. Jemand tritt ein in eine in der Vergangenheit hundertmal, tausendmal gehörte Musik wie in einen Palast der Erinnerung. Die Musik hebt an, Licht, Menschen, alles tritt vor das Innere des konzentrierten Menschen, als hätte die letzte Vorstellung erst am Vorabend stattgefunden.

          Alte Tänzer sehen, wenn sie die Musik hören, die anderen Mitwirkenden neben sich auf der Bühne und durchleben im Geist Note für Note, Sprung um Sprung, das ganze Stück, sie fühlen jedes ihrer damaligen Assemblé Jeté. Ihr kinästhetisches Gedächtnis spielt ein Stück vor ihrem inneren Auge und zugleich in ihrem Inneren fühlbar ab. Man muss sich das vorstellen, als würde man in eine virtuelle Realität eintreten und in ihr physisch fühlbar die Identität eines hochbegabten Ballerinen-Avatars annehmen können – also absolut irre. Marta González wird in diesen musikalischen Sekunden in das Glück ihrer früheren tänzerischen Existenz versetzt. Auch ohne sie als Mensch gekannt zu haben, ist es für viele Menschen wundervoll, das am Bildschirm nachzuerleben.

          Aber ist das nicht ein irgendwie intimer Moment der Verwandlung eines dem Tod nahen Menschen, den wir betrachten wie Voyeure? Warum hat man das veröffentlicht? González’ momenthafte Rückkehr aus den bewusstseinsozeanischen Tiefen ihres Vergessens soll für eine Charity-Organisation werben, die sich für den Einsatz von Musik bei der Betreuung und Pflege an Alzheimer oder anderen Störungen des Gedächtnisses Erkrankter starkmacht. Mit Spenden soll es möglich werden, nicht nur alten Musikerinnen und Tänzern, sondern möglichst vielen Patienten ihre individuelle Playlist vorspielen zu können. Beobachtungen lassen darauf schließen, dass es diese Menschen ruhiger und weniger ängstlich macht.

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