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Frankfurter Buchmesse : Was macht Naddel im Hause Unseld?

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Die Buchmesse war ungewöhnlich bunt

Die Buchmesse war ungewöhnlich bunt Bild: dpa

Die diesjährige Frankfurter Buchmesse war ein Traum: Neben politischen Debatten und großer Literatur fanden sich allerlei boulevardeske Biographien und ein beeindruckendes Star-Aufgebot.

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          Günter Grass feiert eine Tanzparty. Nadja Abd El Farrag besucht den exklusiven Dichter- und Kritikerabend beim Verleger Joachim Unseld. Der Großschriftsteller Viktor Jerofejew feiert den literarischen Untergrund und fordert Arschtritte für arrivierte Großschriftsteller. Bertelsmann entdeckt das Thema Zensur als Marketingstrategie. Muhammad Ali trägt einen Schnurrbart, schweigt und steigt noch einmal in einen Ring. Suhrkamp-Stiftungsratsmitglied Alexander Kluge lehnt bei der Gedenkfeier für Siegfried Unseld in der Paulskirche ganz hinten am Geländer, schweigt auch und schaut unbeteiligt, als gehöre er nicht dazu.

          Das war die Buchmesse.

          Eine Buchmesse der verbotenen Bücher. Eine Messe der Liebe. Der Leichtigkeit. Der Gegensätze. Der Rußland-Folklore. Des Trash. Und immer wieder Suhrkamps. So fest man sich auch vorgenommen hatte, sich am Feuilletonisten-Vergnügen Nummer eins, der Suhrkamp-Astrologie, den Deutungen von Untergangs-, von Aufstiegs- und Entmachtungszeichen des großen Verlagshauses, nicht mehr zu beteiligen. So gern man dringenden Appellen aus dem Hause folgen würde, sich doch endlich wieder mit Suhrkamp-Büchern statt mit Suhrkamp-Verlegern zu befassen. Aber dafür war die große, zweieinhalbstündige Trauerfeier am Mittwoch nachmittag in der Paulskirche einfach zu aufdringlich theatralisch inszeniert. Hier wurde eine Tragödie inszeniert. Ein Museum gefeiert. Eine Religion gegründet, deren Zukunft in der Vergangenheit liegt. Und hier wurden Machtansprüche demonstriert.

          Die Trauermesse voller Zeichen

          Seit Wochen war spekuliert worden, ob Unselds Witwe Ulla Berkewicz an diesem Tag erklären würde, daß sie ab sofort die Leitung des Verlags aktiv und alleinverantwortlich ausüben und daß der aktuelle Geschäftsführer Günter Berg entmachtet oder gar entlassen werde. Und die Zeichen verdichteten sich. Aber es blieb bei Zeichen. Daß Günter Berg zwar mit dem schweigenden Dichterzug zu Beginn einzog, dann aber auf der langen Rednerliste fehlte. Daß als einziges Stiftungsratsmitglied der Berkewicz-Anhänger Adolf Muschg sprechen durfte, der Gefahren für den Suhrkamp-Verlag an die Wand malte, die an der wirklichen Lage des Verlages so weit vorbeigehen, wie es nur irgendwie denkbar ist, als er vor einer drohenden Anpassung an den Markt warnte und von einer Zukunft sprach, in der der Suhrkamp-Verlag durch Marktanpassung zur Unkenntlichkeit verkommen sein könnte. Wer nur einen Blick in das von Berg verantwortete aktuelle Suhrkamp-Programm wirft, sieht, daß keine Befürchtung abseitiger und wirklichkeitsferner sein könnte. Aber kaum war das dramatische Finale mit der Trauerrede Ulla Berkewiczs verklungen, wußten schon die meisten Gäste, die der beklemmenden, zukunftsangsterfüllten Feier beigewohnt hatten, daß der Machtkampf im Hause Suhrkamp offenbar schon vor der Trauerfeier ausgetragen worden war und daß die öffentlich schweigenden Stiftungsratsmitglieder Alexander Kluge, Jürgen Habermas und Hans Magnus Enzensberger ihren Austritt aus dem Rat für den Fall angedroht hatten, daß Frau Unseld-Berkewicz die alleinige Macht im Hause übernimmt. Die erste Runde ist anscheinend verloren gegangen. Das heißt nicht, daß nicht noch viele neue folgen.

          An jeder Ecke in glänzend besuchtes Podium

          Und die Feuilletonisten, so scheint es, freut das Ganze auch noch. Haben sie wenigstens was zu deuten, die ganze Messe lang. Aber in Wahrheit ist die Tatsache, daß sich der wichtigste deutsche Verlag so beharrlich in die eigene Vergangenheit verkrallt, um Macht und Posten ringt und mit seiner vatikanischen Öffentlichkeitsarbeit die abenteuerlichsten Spekulationen nährt, kein Deutungsvergnügen, sondern eine große, die einzig wirklich lebensbedrohliche Gefahr für dieses wunderbare Haus.
          Und wenn es sogar möglich ist, daß aus dem weihevoll verlesenen Text Siegfried Unselds über seinen letzten Besuch bei Samuel Beckett, auf der Feier die schönste Passage, in der Unseld beschreibt, wie Beckett kurz vor seinem Tod über die Tränen Ulla Berkewiczs lacht, nur deshalb gestrichen wird, weil in diesem Absatz auch der verstoßene Sohn Joachim Unseld erwähnt wird, dann ist es um die Führung dieses Hauses wirklich schlecht, sehr schlecht bestellt.

          Aber vielleicht sind das alles völlig überzogene Deutungen, und der kleine Kosmos der Kultur-Berichterstatter droht über all dies Raunen wirklich das Wesentliche zu vergessen: Daß es eine großartige Messe war. Eine lebendige Messe. Mit dramatisch steigenden Besucherzahlen. Mit einem russischen Länder-Schwerpunkt-Konzept, das trotz reichlich kitschig-folkloristischer Selbstpräsentation im großen Forum literarisch außerordentlich interessant war und den Blick auf ein bislang nur wenig erschlossenes Gebiet eröffnete. Es war Leben in den Hallen. So viel Leben wie selten zuvor. Freitag nachmittag war zum ersten Mal fürs Publikum geöffnet, und nicht nur am Stand des Diogenes-Verlages, wo sich gleich 4000 Schüler für den Nachmittag angekündigt hatten, war man glücklich alarmiert über die plötzliche riesige Publikumsbegeisterung. Es wurde diskutiert, verliebt gelesen, protestiert. An jeder Ecke ein glänzend besuchtes Podium. Hier wird die verbotene russische Harry-Potter-Persiflage in niederländischer Sprache vorgestellt, dort hören dreißig Leser bei der Veranstaltung "kleine Länder, große Literatur" zu, hier wird über den Krieg im Buch gesprochen, dort über die Liebe, da über Ullstein; und dann wird plötzlich spontan ein Buch verboten.

          Ein Unkampf

          Die Frankfurter Buchmesse ist ein Traum für den Lesemenschen und war es immer schon. Aber die Ernsthaftigkeit und Leichtigkeit und Lebendigkeit dieses Jahres, die gab es vorher fast noch nie. Und sosehr die Buchschützer aller Länder klagen: Bohlen und all der andere Buchunsinn schadet der Messe und der Bücherindustrie überhaupt nicht. Hier auf der Messe konnte man es sehen. Ja, ständig begegnete man Menschen, die ihrem Gangnachbarn zuflüsterten, sie müßten unbedingt den neuen, zensierten Bohlen stehlen, und die Kameras interessierten sich natürlich wirklich vor allem für die großen Starauftritte von Muhammad Ali und weniger für frisch geschöpfte Lyrikbändchen. Aber es ist so ein angenehmes, friedliches Nebeneinander. Ein Unkampf. Und all die Leute, die wirklich wegen Bohlen, Naddel und ihrer Freunde auf die Messe kommen, die bleiben eben auch an vielen anderen Ständen stehen und schauen und hören zu und lesen. Was kann sich eine solche Messe Schöneres wünschen, als keine elitäre Veranstaltung für einen sehr überschaubaren, klar abgegrenzten Teil der Öffentlichkeit zu sein, sondern ein Großereignis für Kulturinteressierte und solche, die da bislang eher so am Rande agieren und denken.

          Auftritt Naddel: Erst Schweigen, dann Raunen

          Was für ein schöner Moment war es, als im Hause Joachim Unselds, auf dem Höhepunkt der Verlagsfeierlichkeiten mit ausgewählten Autoren und Journalistenprominenz, Donnerstag abend plötzlich Nadja Abd El Farrag, die sogenannte Naddel also, auftauchte. Dies Schweigen erst. Dies Raunen dann. Das Zusammentreffen der beiden Welten. Der Buchempfangswelt, wo es schon reicht, wenn du ein kleines Mützchen trägst oder gar eine Sonnenbrille, um als exzentrische und überspannte Künstlernatur zu gelten, über die alle sofort reden, und dieser strahlenden Fernsehdame im rosa Kleid. Die mutigsten Schriftsteller des Abends stürzten sich schnell in ein spontanes Fachgespräch mit ihr. Das heißt, die redeten so zwanzig Minuten auf sie ein, gingen dann weg, um jedem im Hause zu erläutern, daß man mit der gar nicht reden könne. Die sei noch weniger schlau als angenommen. Diese leicht durchschaubaren Bösartigkeiten nehmen wir aber mal einfach als erste Kontaktaufnahme-Unsicherheiten leicht übererotisierter Schreibfreunde hin, die ja auch erst mal testen müssen, ob so ein Gespräch in aller Öffentlichkeit dem guten Ruf nicht schaden wird.

          Gegensatz-Versöhnungsfest

          Aber als etwas später dann auch noch Hannelore Elsner kam und den Link zwischen der überseriösen Buchwelt und den gewaltsam eindringenden Fernsehpersönlichkeiten lachend, plaudernd schloß, da herrschte so eine schöne Harmonie im Raum. (Bis dann etwas später Persönlichkeiten eher so aus dem Bücherbereich gefährliche Flaschenschlachten zum Thema "Ist Kickers Offenbach oder Eintracht Frankfurt der traditionsreichere Club" austragen wollten und nur mit letzter Not gestoppt werden konnten. Aber da war Frau Abd El Farrag schon gegangen. Auf einen anderen schönen Buchempfang.)

          Leider hat die Tanzparty mit dem Nobelpreisträger und Liebeslyriker Günter Grass erst nach Redaktionsschluß dieser Ausgabe begonnen. Das versprach ein weiteres schönes Gegensatz-Versöhnungsfest zu werden. Die Leichtigkeit der Ankündigung jedenfalls ließ auf einen eher grassuntypischen Abend hoffen. Vielleicht ist sogar Marcel Reich-Ranicki gekommen, der gestern vor sechshundert Zuschauern seinen zehnbändigen Erzählungskanon vorstellte und drei Abende zuvor auf dem Empfang der deutschen Verlagsanstalt eine lange Versöhnungsrede auf Günter Grass gehalten hatte. Leider war Grass selbst nicht da. Aber er wird davon inzwischen gehört haben.

          Mit Gänsehaut und Glücksgefühl

          Ansonsten ist für die beiden ja ein großer Boxring aufgebaut. Den könnten sie nutzen. Unter dem Riesenplakat "The Greatest of all Times" wäre das ein schönes Fernsehspektakel. Aber in Wirklichkeit ist dieser Ring natürlich für Muhammad Ali aufgebaut worden. Sein Auftritt war einer der schönsten Momente der Messe. Als der von seiner Parkinson-Erkrankung schwer gezeichnete noch einmal in den Ring stieg und vielleicht tausend Zuschauer, die zwei Stunden lang gewartet hatten, Ali, Ali riefen und er in diesem Ring zunächst langsam, ganz langsam von Corner zu Corner lief, immer kurz die Fäuste hob und lachte, da waren alle, die dies live erlebten, irgendwie erschüttert. Mit Gänsehaut und dem Glücksgefühl zwischen all dem Reden über Größen und Legenden hier einer wirklichen Legende zu begegnen, die nichts sagt, aber lebendig ist. Präsent. Ein Großereignis auf dem Großereignis Buchmesse. Und in der Mitte des Rings war das Buch aufgestellt. Sein Buch. Wegen dem er und sein ganzer Box- und Freundesstab und seine Frau nach Frankfurt gereist waren. Und wie dieser ehemals stärkste Mann der Welt zärtlich fast und vorsichtig, mit Hilfe seines Verlegers dieses große Buch anhob und Seite für Seite umblätterte, da war dieses herrliche Buchmessengefühl ganz da. Der alte Boxer und das neue Buch, das Fernsehen und das Buch, das Publikum, die sogenannten Massen und das Lesen allein. Lebendigkeit und Legende. Lebendigkeit und Literatur. Das Leben. Das Buch. Die Messe. Was für ein schöner Erfolg.

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