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Im Bildungsrausch : Ist akademisch auch hochwertig?

Die Hörsaale platzen schon jetzt aus allen Nähten Bild: dpa

Die Anzahl der Studierenden in Deutschland steigt. Der Pisa-Koordinator Andreas Schleicher verzeichnet diese Entwicklung als einen positiven Trend und weiß offensichtlich nicht, was er da redet.

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          Im Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung hat der Philosoph und ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin (SPD) gerade vor einer Überakademisierung der Berufswelt gewarnt. Es zeichne sich ab, dass es bald mehr Studenten als Auszubildende in Lehrberufen gebe. Knapp die Hälfte eines Jahrganges dränge aufs Gymnasium. Der Bildungsbericht der Bundesregierung stelle den Übergang von dort zur Hochschule als einzig vernünftigen Weg dar. Eine weitere Erhöhung der Akademiker-Quote sei aber nur vordergründig eine „Bildungsexpansion“. Glaube denn irgendjemand ernsthaft, dass, wenn alle studierten, auch alle in Zukunft Führungsfunktionen in Staat und Wirtschaft einnehmen würden?

          Jürgen Kaube
          Herausgeber.

          Das sind selten gehörte Töne in der meistens von jeder Zahlensteigerung pauschal erfreuten und dabei, auch bei neunzig Studierenden pro Professor, konstante Qualität der Bildung unterstellenden Diskussion. Prompt hat sich Andreas Schleicher im „Deutschlandfunk“ zu Wort gemeldet. Der OECD-Vizedirektor, der die Pisa-Studien koordiniert hat, gilt seitdem als Bildungsexperte.

          Seine Expertise sagt ihm nun, dass es „letztendlich egal“ ist, ob eine höherwertige Ausbildung im beruflichen oder akademischen Bereich angestrebt wird, Hauptsache, sie ist höherwertig, womit gemeint ist: höherrangig. Solange jemand mit einem Hochschulstudium 74 Prozent mehr verdiene als jemand „mit Sekundarabschluss oder Lehre“, sei es abwegig, eine Debatte über Quoten zu führen. Der Arbeitsmarkt entscheide, und der zeige, „dass heute der Bedarf am stärksten steigt bei akademisch oder auch beruflich ausgebildeten Spitzenkräften“.

          Bringt Hochschulexpansion mehr Spitzenkräfte hervor?

          Oder auch. Aber das Verhältnis von beidem war ja gerade die Frage. Ihr entzieht sich jetzt unter Hinweis auf den Markt jemand, der mitsamt der OECD seit einem guten Jahrzehnt von der deutschen Politik fordert, die Akademiker-Quote zu erhöhen. Schleicher weiß also genau, dass der Umfang des Arbeitsmarktes für Akademiker von der Angebotsseite her politisch bestimmt ist. Erstens gibt es maximal so viele inländische Mediziner, Lehrer und Maschinenbauer, wie Studienplätze dafür bereitgestellt wurden.

          Und zweitens verdrängen bekanntermaßen Akademiker, die nicht in studiennahen Fächern unterkommen, Personen mit geringeren Bildungszertifikaten, und zwar ganz gleich, ob man acht Semester Betriebswirtschaftslehre studiert haben muss, um vom Computer die Konditionen einer Riester-Rente abzulesen. Dass der Bedarf nach Spitzenkräften hoch ist, das festzustellen bedarf es keines Experten, der selbst vielleicht nicht an Überqualifikation leidet. Aber ob Hochschulexpansion mehr Spitzenkräfte hervorbringt, das wäre zu beweisen.

          Wohlweislich vergleicht Schleicher darum auch die Akademikersaläre nicht mit den Gehältern von Abiturienten, die statt des Studiums eine Lehre wählten, etwa, um den heimischen Handwerksbetrieb zu übernehmen. Sondern er vergleicht sie - „Sekundarabschluss oder (!) Lehre“ - mit solchen, für die eine solche Wahl oft gar nicht bestand. Vermutlich war Schleicher, von Haus aus Statistiker, auch froh darüber, nicht nach der Varianz der entsprechenden Einkommensverteilungen gefragt worden zu sein. Denn zur Frage, ob die Akademisierung aller Berufe sinnvoll ist, tragen die Ungelernten mit Sekundarabschluss so wenig bei wie die Spitzengehälter von Wirtschaftsbossen oder Fernsehstars.

          Genaugenommen besagen solche Statistiken eben nichts über die soziale Wirklichkeit. Sie schaffen nur eine, indem jungen Leuten eingeredet wird, wer nicht studiere, sei offenbar zu dumm, um die besten Einkommenschancen zu ergreifen. Das ist selbst so intelligent wie die Behauptung, nur durch jene „Bildungsexpansion“ werde der Standort gesichert. Dass sie vor allem über Massenfächer wie Jurisprudenz, Betriebswirtschaftslehre und diejenigen der Geisteswissenschaften stattfindet, bleibt unerwähnt. Solange auch der letzte nichtlesende Germanist am Ende irgendeinen Arbeitsplatz findet, fühlt sich die Bildungspolitik im Recht.

          Die Universitäten beteiligen sich an dieser Ideologie. Während sie eine Überlast beklagen, können sie sich zugleich alles als Studiengang vorstellen. Der einstige Spott eines Präsidenten der Universität von Chicago, diese sei nicht dazu da, Fahrlehrer auszubilden, ist schal geworden. Überall werden nach „Praxis“ aussehende Kurse ins Fenster gestellt. Fachhochschulen, zieht euch warm an! Dabei sind die allermeisten Forscher naturgemäß gar nicht in der Lage, für andere Berufe als den des Forschers auszubilden. Aber was an den Universitäten tatsächlich geschieht, diesseits des Werbematerials, das interessiert den OECD-Experten genauso wenig, wie es die Mobilitätssoziologen oder die sogenannte Bildungspolitik interessiert.

          Insofern ist das Lob, das soeben auch wieder die Kanzlerin dem deutschen System der dualen Berufsausbildung zollt, das man in viele Länder exportiere, bloß rhetorisch. Ihre eigenen Leute arbeiten im Verein mit fast allen anderen Politikern daran, es zu schwächen. „Facharbeiter“ klingt immer gut, „Facharbeitermangel“ immer bedrohlich. Aber weniger Hochschulzugang? Oder Standards, an denen man auch scheitern kann? Da sei der Selbstbetrug vor.

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