Digitales Lernen : Entmündigung als Bildungsziel
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Umerziehung auf die brutale Art in Stanley Kubricks „Uhrwerk Orange“ (1971). Im Digitalen übernimmt sie ein sanftmütiger virtueller Tutor. Bild: action press
Gehört dem digitalen Studenten die Zukunft? Das wäre beängstigend. Mit fragwürdigen Angeboten wachsen gerade Bildungshamster heran, denen nichts fehlt – bis auf das Glück der Erkenntnis.
Zwischen selbstfahrenden Autos und digitalen Lernmedien gibt es eine direkte Verbindung: den Datenverbrauch. Das autonome Auto bewegt sich nur in einem Universum von Sensoren, das virtuelle Klassenzimmer ist ein Schattenarchiv von Bildungsbiographien. Das Schicksal der Daten bleibt im Dunkeln. Versicherungen und Datenhändler könnten sich dafür interessieren. Für die Anbieter von Massive Open Online Courses, sprich: Moocs, öffnet sich ein lukratives Nebengeschäft. Manche Mooc-Anbieter bieten sich schon heute als Personalvermittler an.
Sie handeln mit einem kostbaren Wissen. Lerndaten sind Auskunftsdateien der Persönlichkeit. Sie sagen viel über Auffassungsgabe und Konzentrationsfähigkeit, über Schwächen, Erinnerungsvermögen, Motivation. Der Schweizer Mathematiker Paul-Olivier Dehaye, der an der Universität Zürich ein Online-Seminar über die Geschäftsmodelle von Bildungsanbietern abhielt, fragte den kalifornischen Weltmarktführer Coursera einmal nach dem Verbleib seiner Daten: ohne Reaktion. Er wollte sie nach geltendem EU-Recht wiederhaben: ohne Erfolg. Und ohne weitere Erklärung.
Offenheit ist hier eine Einbahnstraße. Vor der Transparenz kommt das Geschäft. Als Dehaye die Daten seines Seminars sperrte, wurden ihm die Dozentenrechte entzogen. Danach manipulierte Coursera sein Profil. Mails, die er seinen Studenten schrieb, wurden ohne sein Wissen unsichtbar.
Der Datenschutz ist aus dem Spiel
Rechtlich steht dem auch in Deutschland nichts im Wege. Nach amerikanischem Recht, sagte die schleswig-holsteinische Datenschutzbeauftragte Marit Hansen, lassen sich die Daten für alle möglichen Zwecke verwenden. Können es die beiden Münchner Universitäten, die mit Coursera kooperieren, verantworten, ihre Studenten zu Handelsobjekten zu machen? Die Universitäten ziehen sich kleinlaut zurück. Die Geschäftsbeziehung mit Coursera sei Sache der Studenten, obwohl die Online-Zertifikate an der TU München längst zu Hochschulprüfungen berechtigen. Der Anreiz ist gesetzt.
Die Universitäten sind selbst nur Juniorpartner in der Kooperation. Coursera behält die persönlichen Profile für sich, die Universitäten werden mit einer anonymisierten Version abgespeist. Den Vertrag mit Coursera darf die Presse nicht einsehen. Man redet lieber von Chancen und Herausforderungen. Wer Kritik übt, gilt als Querulant. Gegen Dehaye strengte die Universität Zürich ein Disziplinarverfahren an und versuchte ihn mit einer Selbstverpflichtung zum Schweigen zu bringen. Dehaye verweigerte die Unterschrift.
Im März reichte er bei einem New Yorker Gericht Klage gegen Coursera ein. Der Richter fegte seine Ansprüche mit dem Willkürargument vom Tisch, Dehaye sei Dozent und nicht Kunde von Coursera gewesen. Er beruft sich nicht auf Courseras Privatsphären-Regelung, sondern auf ein Zertifikat der amerikanischen Handelskommission. Der europäische Datenschutz ist aus dem Spiel. Dehaye bekommt am Ende, wie er mit Gerichtsdokumenten belegt, nur einen Teil seiner Daten wieder. Coursera muss ihm vor Gericht auch nicht beantworten, was es mit seinen persönlichen Daten tut.
Oder einfach an Google weitergeben
Der Fall zeigt, wie schwer es für Europäer ist, amerikanische Firmen auf Datenschutz zu verpflichten. Es ist fruchtlos, europäische Standards zu reklamieren, wenn der Rechtsanspruch vor Gericht nicht durchsetzbar ist. Für amerikanische Unternehmen ist es ein geringes Risiko, den europäischen Datenschutz zu unterlaufen, solange völlig unklar ist, welches Recht im Streitfall Anwendung findet, sagt der bayerische Datenschutzbeauftragte Thomas Petri.
Es gibt die Verbindung zwischen automobilen und digitalen Lernmedien auch in Personalunion. Der deutsche IT-Forscher Sebastian Thrun, lange bei Google in Diensten, ist Schrittmacher bei der Entwicklung selbst fahrender Autos und Pionier von Moocs; seine Plattform Udacity preist er als demokratischen Bildungssegen weltweit an. Bertelsmann hat angebissen und eine Kooperation geschlossen. Der Züricher Molekularbiologe Ernst Hafen fragte Thrun einmal, wie Udacity mit persönlichen Daten umgehe. Thrun antwortete freimütig, man könne mit ihnen in den Vereinigten Staaten so gut wie alles tun. Und er fügte halb im Scherz hinzu: „Sie auch an Google weitergeben.“ Google und Facebook sind Kooperationspartner von Udacity.
Nur ein Scherz? Wohl eher nicht. Die Geschäftsbedingungen von Udacity sind eine Entmündigungsurkunde. Das Unternehmen bedingt sich aus, persönliche Daten nicht nur an Universitäten und Geschäftspartner weiterzugeben, sondern auch an potentielle Arbeitgeber. Ältere Daten werden selbstverständlich auch nach Updates gespeichert und nach Kursende nicht gelöscht. Was man explizit nicht garantiert, ist die Sicherheit der Daten. Wer könnte das auch?
„Ein unauflösbarer Interessenkonflikt“
Es wird trotzdem nicht lange dauern, bis das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE), Bertelsmann-Tochter und einflussreicher Ratgeber der deutschen Bildungspolitik, das nächste Mal den Rückstand des Landes in der digitalen Bildung beklagen wird. Die Bildungspolitiker werden die Botschaft nicht überhören. Jüngst ging wieder einer dieser CHE-Rufe ins Land. In diesem Jahr wird besonders viel über den digitalen Aufbruch geredet, der rituell mit der Klage über katastrophale Rückstände beginnt. Bis Jahresende soll eine Digitalstrategie für Schulen vorliegen. Der Bildungsausschuss des Bundestags legte vor kurzem den Bericht „Digitale Medien in der Bildung“ vor, der sich über Risiken der Lerntechnologien ausschweigt und als wichtigste Referenz die IT-Branchenlobby Bitkom führt.
Bundesbildungsministerin Johanna Wanka kommentierte, man wolle die Risiken nicht verschweigen, aber die Chancen in den Vordergrund stellen. Warum macht man es nicht umgekehrt? Denn nicht nur das Recht ist eine stumpfe Waffe, auch in der Technik steckt gewaltiges Missbrauchspotential. „Daten, die den Bildungsweg über einen längeren Zeitraum erfassen, sind auf keinen Fall zu sichern“, sagt der Informatiker Jörn Müller-Quade vom Karlsruher IT-Sicherheitszentrum. Je stärker sie vernetzt werden, desto aussichtsloser wird ihr Schutz. Es gibt bei großen Datenvergleichen auch keine verlässliche Anonymisierung. „Wir können das Maß der Anonymität nicht vernünftig bewerten“, sagt Müller-Quade.
Wenn ausländische Dienste wissen wollen, wer die Hochbegabten im Land sind, müssen sie nur die Bildungsanbieter anzapfen. Der nächste Braindrain ist vorprogrammiert. Für die Firmen ist der Datenschatz ein Goldesel bei der Personalvermittlung. Die Weitergabe an potentielle Arbeitgeber ist das explizite Geschäftsziel von Coursera und Udacity. Ob dafür eine Einwilligung des Kunden nötig ist, lassen die schwammig formulierten Geschäftsbedingungen offen. Coursera erwähnt es nicht einmal. „Die Kombination von Bildung und Personalvermittlung in einem Geschäftsmodell“, schließt Müller-Quade, „schafft einen unauflösbaren Interessenkonflikt“.
So wird Bildung in zwanzig Jahren ablaufen
Mit lebenslangen Folgen: Denn der letzte Schrei der digitalen Bildung ist nicht mehr der kollektive Mooc, sondern der virtuelle Tutor, der Schüler, Studenten und lebenslang Lernende über ihre gesamte Bildungsvita persönlich beschult. Diese Tutoren haben einen unbändigen Datenhunger, um nach errechneten Stärken und Schwächen maßgeschneiderte Aufgaben vorlegen zu können, die bis auf den Biorhythmus und die Lernumgebung abgestimmt sind. Die Evangelisten dieses Modells sind Ralf Müller-Eiselt und Jörg Dräger. Dräger ist Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung und Geschäftsführer des CHE, Müller-Eiselt Angestellter bei Bertelsmann. Das vom Bund geförderte Hochschulforum Digitalisierung trägt ihre Parolen schallverstärkend in Öffentlichkeit und Politik. Denn wer gehört dem Forum an: die CHE.
Einmal herbeigerufen, lässt sich der digitale Golem ein Leben lang nicht mehr abschütteln, und niemand weiß mehr, was mit seinen Daten geschieht. Udacity bedingt sich das Recht aus, persönliche Daten bei Insolvenz oder Geschäftsübergabe dem Nachfolger zu übergeben. Was, wenn der Nachfolger in einem Land mit schwächerem Datenschutz agiert oder ganz andere Ziele verfolgt? Wenn sein System gehackt wird, wie bei Coursera mehrmals geschehen?
Personalisierte Bildung heißt zuallererst Entmündigung der Person. „Die Zeit“ druckte vor einiger Zeit den Essay eines in den Vereinigten Staaten lehrenden Germanisten, der in ein Zukunftsszenario führte, in dem der Student von der Wiege bis zur Bahre von einem virtuellen Tutor mit sanft säuselnder Incentive-Sprache angetrieben wird. Der Autor war mit der Rolle des Lernkaninchens ganz einverstanden. Er hatte tief in die Glaskugel geschaut: In zwanzig Jahren, heißt es befehlshaberisch, wird Bildung so ablaufen. Mit wem kooperiert die „Zeit“? Genau: dem CHE.
Die sanfte Erpressung mit klaren Vorgaben ersparen
Man wundert sich: Ein Germanistikprofessor freut sich auf eine Zukunft, in der er sich einem stumpfsinnigen Mathematikprogramm unterwirft. Breithaupts Beispiele sind durchweg Rechenaufgaben und Soft Skills. Ist Literaturwissenschaft in Zukunft nur ein anderes Wort für BWL? Wie soll ein Student in didaktischer Einzelhaft kritische Distanz zu einem Medium gewinnen, das ihm in Businessdeutsch Angebote unterbreitet, die er nicht ablehnen kann?
Kostprobe: „Du übernimmst schon im Juli die Niederlassung in Shanghai. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Du hast die Wahl. Wir gehen draußen spazieren und wiederholen dabei chinesische Vokabeln, oder wir machen Gruppenarbeit“, säuselt das Gerät. Antwort: „Gruppenarbeit.“ – „Eine Kollegin aus der Niederlassung in Bangalore, die im September nach Peking wechselt, hat auch gerade Lust auf Gruppenarbeit. Kann ich euch beide dafür begeistern, eine Fallstudie im strategischen Marketing zu lösen?“ Gewiss. Wie wundersam weise klingt daneben der Satz von Jörn Müller-Quade: „Ich möchte jeden Tag selbst entscheiden, ob ich heute faul oder fleißig bin.“ Was würde ihm der Tutor antworten? „Das ist Deine Entscheidung, aber denke daran, dass Du noch Lücken in der Teamarbeit hast.“
Und wie sollen Schüler und Studenten einen Algorithmus „hinterfragen“ (Johanna Wanka), den sie nicht durchschauen? Man wünscht sich von der Ministerin endlich einmal eine grundsätzliche Aussage: Ist die digital konfektionierte Monade ihr Bildungsziel? Bleibt dem Schüler etwa die Wahl zu sagen: Nein, diese Aufgabe mache ich nicht. Denn das Programm weiß längst zu viel von mir. In welche Bildungs-Pampa wird der Schüler versetzt, der sich der Aufzeichnung seiner Daten generell widersetzt? Die Politik müsste dem Schüler die sanfte Erpressung mit klaren Vorgaben ersparen. Der Bildungsbericht schweigt dazu.
Die Hand vom Lenkrad
Selbstverständlich wird versichert: Datenschutz und Privatsphäre haben allerhöchste Priorität. Ein beschwichtigender Satz fehlt auch in dem „Zeit“-Artikel nicht. Er bleibt aber unausgeführt. Mögen sich Schulen und Universitäten darum kümmern – was sie, wie eine Stichprobe zeigt, nicht ansatzweise tun. An der Universität Marburg können Dozenten mit persönlichen Daten schalten und walten. Der Anglistikprofessor Jürgen Handke, ein Pionier der digitalen Bildung, erzählte einmal freimütig, wie er Studenten, die sie zu selten benutzt hatten, arglos aus seiner Bildungsplattform aussperrte. Der Marburger Datenschutzbeauftragte kennt auf Nachfrage nicht einmal die eigenen Regeln. Er müsse sich erst einlesen, sagt er am Telefon.
In Handkes Zukunftsvision ist der Professor ein Consultant, den man, weil er charmant und schrullig ist, von Zeit zu Zeit gern einmal aufsucht. Wie sollen auf dieser Basis ein fachlicher Austausch und ein intellektueller Raum entstehen, in dem Erkenntnisfragen erst Gestalt annehmen? Die Antwort lautet wohl: Dem Studenten, den sein virtueller Tutor von Kindesbeinen an zum Bildungsfrettchen erzogen hat, wird nichts fehlen. Das Glück der Erkenntnis ist ihm fremd.
Auch Universitäten können das Personenwissen später einmal vielseitig verwenden, beispielsweise als ressourcensparendes Mittel bei der Stipendienvergabe. Mancher Politiker fordert es bereits im Namen der Chancengerechtigkeit. Die Anreize können so gesetzt werden, dass bildungspolitische Ziele wie die Behebung des Mint-Mangels programmatisch bedient werden, ohne dass der Student davon erfährt. Entscheidet der Student dann noch nach den eigenen Neigungen oder nach den Einflüsterungen des digitalen Tutors, in dessen Innenleben er keinen Einblick hat?
Die Löschmöglichkeit wäre eminent wichtig. Aber das wollen die Unternehmen nicht. Der spätere Arbeitgeber soll schon vor dem Gespräch wissen, ob sich ein fauler oder fleißiger Student bewirbt. Schnelle Auffassungsgabe ist eher von Nachteil – die Bemessung ist quantitativ. Man kann das für einen Überschuss dystopischer Phantasie halten, sollte dann aber nicht nach Singapur blicken, das die Bildungsdaten seiner Bevölkerung flächendeckend erfasst. In Deutschland ist digitale Bildung noch eine Sache von Einzelkämpfern. Und es ist gut, dass die Politik einen Rahmen setzen will. Doch im Augenblick lässt sie sich von Lobbyisten in die Bildungszukunft steuern und nimmt die Hand vom Lenkrad.