Feuilleton-Glosse : Eingeführte
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Nachhilfe zuerst: Die „Einführung“ nämlich ist republikweit an allen Theatern das meistgespielte Stück. Es dauert ungefähr eine halbe Stunde.
Denkwürdige Szene in der Nacht des 8. September 1953, als nach der deutschen Erstaufführung von Becketts „Warten auf Godot“ im Berliner Schlossparktheater ein ratloser Theaterbesucher auf den überraschten Theaterkritiker zustürzte: „Det wer’n Se uns aba zu erklär’n ham, Herr Luft!“ Und der große alte Friedrich Luft selig, der damals noch ein großer Junger war, erklärte alles brav - in seiner Kritik. Obwohl man es schon auf der Bühne klargemacht bekam. Der Berliner Zuschau-Rüpel wollte nicht einsehen, was er sah: dass auf jemanden zu warten, der nie kommt, zwar ein verzweifeltes Spiel ist, aber die Seinspause zwischen Geburt und Tod mit herzzerreißendem Gelächter füllen kann.
Das könnte einem Kritiker heute nicht mehr passieren. Denkwürdige Szene im Foyer des Frankfurter Schauspiels vor ein paar Jahren, als eine liebenswürdige, sonst durchaus sich als gebildet betrachtende Dame der gutgestellten Gesellschaft vor der Premiere leuchtenden Aug’s gestand, sie wisse jetzt, wovon der „König Lear“ handele.
Der Monolog des Dramaturgen
Die konsternierte Gegenfrage, ob sie denn das berühmte Stück noch nie gelesen oder dargeboten bekommen habe, verneinte sie besten Gewissens. Spielte dann jedoch ihren Trumpf aus: Sie komme soeben aus der „Einführung“. Und das genüge ihr. Außerdem sei der Chefdramaturg ein ganz reizender Mensch. Obwohl die Inszenierung, die sie dann sah, den „Lear“ nicht einmal in Ahnungsansätzen zu zeigen vermochte, sondern allein das, was dem Regisseur dazu an hilflos bizarren Einfällen durch die Inszenatorenrübe rauschte - sah die sonst sich durchaus für gebildet Haltende darin das, was ihr der Dramaturg vorab erklärt hatte, dass sie es sehen würde.
Lufts Zuschau-Rüpel von damals wollte nicht sehen, was er sah; meine Zuschau-Nette von heute wollte durchaus mehr sehen, als sie sah. Und das liegt an der „Einführung“. Die „Einführung“ nämlich ist republikweit an allen Theatern das meistgespielte Stück. Es dauert ungefähr eine halbe Stunde. Besteht aus einem Monolog (des Dramaturgen). Und hat den Charme, dass es allabendlich vor jeder Aufführung eines anderen Stückes stattfindet - in das es eben einführt.
Die Angeschmierten
Darin wird den sich sonst durchaus für gebildet haltenden Zuschauern, die aber keine Stücke mehr kennen, vom Chefdramaturgen erklärt, was sie anschließend zu sehen haben. Dass zum Beispiel der große König Lear ein kleiner dummer Kasperl sei. Auf der Bühne hätten sie das nicht erklärt bekommen.
Je weniger sich die Theater um den Sinn ihrer Stücke kümmern, desto mehr müssen sie halt in sie einführen. Und die Eingeführten? Sind die Angeschmierten. Sie humpeln an Krücken ins Theater. Und glauben auch noch, man helfe ihnen auf die Sprünge.