FAZ.NET-Frühkritik: The Voice of Germany : Revolutiönchen im roten Riesenflipper
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Die Jury entscheidet getreu dem Motto: Wer nicht sehen kann, muss hören Bild: obs
Mit „The Voice of Germany“ wollen Pro Sieben und Sat.1 „Deutschland sucht den Superstar“ Konkurrenz machen. Doch die neue Show strengte sich so sehr an, groß und wichtig zu wirken, dass kaum Zeit blieb, eine eigene Linie zu entwickeln.
Ach so, das ist sie jetzt also: „die größte Musikshow, die Deutschland je gesehen hat“. Hat man sich ja schon gefragt, wo die eigentlich bleibt – nach all den anderen größten Musikshows, die das Land jemals gesehen hat, die bisher aber dummerweise nur bei der Konkurrenz liefen. Inzwischen ist Deutschlands Trendkopiersendegruppe Pro Sieben Sat.1 auch auf den Castingshow-Geschmack gekommen und sucht in den kommenden Wochen „The Voice of Germany“ – die Stimme Deutschlands, und zwar gleich mit zwei Sendern auf einmal.
Dass das wie zum Auftakt versprochen der „Beginn von etwas ganz Großem“ sein soll, ist zunächst aber einmal Selbstvergewisserung. Irgendwann muss es doch mal klappen, dem RTL-Erfolg von „Deutschland sucht den Superstar“ etwas entgegenzusetzen.
Zum Beispiel mit einem Konzept, von dem sich bereits das Publikum in den Niederlanden und Amerika begeistern ließ, und das auf den gegenteiligen Bohlen-Effekt setzt: Anstatt schlechte Kandidaten mit unfreundlichen Kraftausdrücken von der Bühne zu pöbeln, erdrückt „The Voice of Germany“ gute Kandidaten mit überschwänglichem Lob.
„Kampf der Coaches“
Dabei helfen „fünf der bedeutendsten Musiker Deutschlands“, wie Pro Sieben am Donnerstag behauptete. Dann saßen aber doch bloß Xavier Naidoo, Nena, Reamonn-Frontmann Rea Garvey und zwei Herren der Countryrockband „The Boss Hoss“ als Jury im Studio, um sich in riesigen Sesseln zum Publikum zugewandt die vorab auserkorenen Gesangstalente anzuhören ohne sie zu sehen. Wer von einer Stimme überzeugt war, drückte auf seinen Buzzer und durfte sich umdrehen, um den Kandidaten zu sehen und in sein Team zu ziehen.
„Kampf der Coaches“ heißt das im Castingshowdeutsch. Aber die angebliche Besonderheit entpuppte sich in der Premierensendung nicht nur ziemlich schnell als ritualisierte Spielerei, sondern sogar als handfester Nachteil. Weil wegen des ganzen Gedrehes nämlich keinerlei Spielraum dafür vorgesehen ist, dass sich zwischen den Bewerbern und der Jury auch nur annähernd so etwas wie ein Gespräch entwickelt. Niemand kann zwischendrin sagen: Zeig mir noch eine andere Seite von dir, um mich zu überzeugen! Und bis auf die Abfrage von Herkunft und Vornamen gibt es kaum Interaktion. Das ist auf die Dauer arg eintönig. Also keine Revolution? Eher ein Revolutiönchen.
Publikum in Dauerekstase
Um zu zeigen, dass Castingshows auch ohne die permanente Demütigung ihrer Protagonisten funktionieren können, sind Pro Sieben und Sat.1 ein bisschen spät dran – das hat Vox schon längst mit „X Factor“ vorgemacht. Das holt in der zweiten Staffel derzeit zwar keine herausragenden Quoten, setzt aber in vielerlei Hinsicht Maßstäbe für das Genre, von der engagierten Jury über die faire Inszenierung bis hin zur gigantischen Kulisse.
Bei „The Voice of Germany“ hapert es jedoch schon an der handwerklichen Umsetzung. Ja, die Bühne ist riesig – aber sie sieht so aus als seien Publikum, Jury und Teilnehmer in einem roten riesigen Flipper gefangen.
Aus dem Bühnenboden wächst eine bedrohlich wirkende, in Silbermetallic glänzende Riesenhand und streckt die Finger zum Victory-Zeichen empor. Das Jingle zur Sendung wirkt wie aus einem japanischen Zeichentrickfilm der 80er Jahre geklaut. Die Kandidaten gehen auf der Bühne in einem völlig ziellosen Lichtgewitter unter. Und die Einstellungen werden so schnell gewechselt, dass am Ende bloß Schnittbrei übrig bleibt.
„The Voice of Germany“ strengt sich so sehr an, besonders groß und wichtig zu wirken, dass kaum Zeit bleibt, eine eigene Linie zu entwickeln. Das Publikum wird in einer permanenten Dauerekstase gezeigt, auch die Jury ist die meiste Zeit ganz aus dem Häuschen wegen des großen Talents – und so ehrenwert das ist, fast ausschließlich gute Sänger zu zeigen: als Dramaturgie reicht es einfach nicht.
Positiv: kein Platz für eine neue „Popstars“-Staffel
Die gute Nachricht ist: Die Show wird in jedem Fall noch spannend. Weil sie, wenn das Publikum sich auf sie einlassen sollte, ein Comeback für Showerfinder John de Mol im deutschen Fernsehen bedeuten würde, der „The Voice of Germany“ entwickelt hat, aber mit seiner neuen Firma Talpa bisher hierzulande noch keinen großen Hit landen konnte. Und wenn nicht? Dann bleibt die Dominanz des derzeitigen Castingshow-Papsts Simon Cowell, der sowohl „DSDS“ als auch „X Factor“ erfunden und erfolgreich um die Welt geführt hat, ungebrochen.
Womöglich braucht die Show noch ein wenig mehr Anlaufzeit. In der Konkurrenz der Jurymitglieder untereinander könnte noch Potenzial stecken. Zumindest Xavier Naidoo ließ zur Premiere erahnen, dass er Spaß hat, statt des sanftmütigen Soulsängers auch mal den fiesen Kämpfer mit festem Siegeswillen zu geben.
Nur um weiter zuzusehen, wie Nena von ihren Jurykollegen als „Ikone der 80er“ hofiert wird, lohnt sich das Einschalten nämlich eher nicht. Vor allem, wenn pro Woche gleich zwei Folgen laufen, und das auch noch auf zwei Sendern mit völlig unterschiedlichen Zielgruppen: donnerstags ist Pro Sieben dran, freitags Sat.1.
Ein Gutes hat „The Voice of Germany“ auf jeden Fall: Pro Sieben hat deswegen in diesem Jahr keinen Platz für eine neue „Popstars“-Staffel. Wahrscheinlich muss man der Neuentwicklung schon deshalb Erfolg wünschen. Dann könnte das am Donnerstag nämlich wirklich „der Beginn von etwas ganz Großem“ gewesen sein: der Beginn einer ganz großen Pause von Castingshows, in denen überdrehte Tanzlehrer Teenagermädchen anbrüllen, wenn die nicht spuren wollen.